Bertolt Brecht - Galileo Galilei

 

Brechts Kritik an Aristoteles

Wolfgang Schadewaldt:

Katharsis, Furcht und Schrecken im aristotelischen Theater

 

Aristoteles blickt auf gewisse ekstatische Kulte, und er findet als empirische Tatsache dort vor: wie Menschen, die besonders stark zur Verzückung neigen, wenn sie unter Anwendung heiliger, orgiastischer Lieder und Gesänge in die Verzückung geraten sind, hernach, wenn sie wieder in den Normalzustand kommen, gleichsam eine Kur, nämlich eine Purgation [Darmentleerung] erfahren haben. (Sie fühlen sich, wie der medizinisch Purgierte, auf eine höchst angenehme Weise wohlig entleert und erleichtert.)

Dasselbe kann man (im Leben) bei Menschen beobachten, die besonders stark zu Rührung und schreckhaften Erregungen neigen (haben sie derartige Erregungszustände durchgemacht, so fühlen auch sie sich, wie nach einer Purgationskur, angenehm entleert und erleichtert. Tränen der Rührung >befreien< das Herz, bei Homer ergötzt man sich am ausbrechenden Jammer).

 [...] so sind wir [...] allerdings berechtigt, das in der Politik über katharsis [Reinigung] ausgeführte auch auf die katharsis in der Tragödiendeutung der Poetik des Aristoteles anzuwenden. Worauf wir aber damit hinauskommen, das ist dieses: Nicht an irgendeine läuternde, bessernde, moralisch-erzieherische, nähere oder entferntere, zeitweilige oder dauernde Wirkung der katharsis denkt Aristoteles bei der Deutung der Tragödie, und zwar weder im engeren oder weiteren und weitesten Sinne, und auch keine Auswirkung der Katharsis auf das Ethos oder den Habitus der Seele zieht er irgend in Betracht. Worauf er hinaus will, das ist einzig und allein die nähere Charakterisierung der für die Tragödie spezifischen Lust und Freude. [...]

Ganz entsprechende Erregungsvorgänge vollziehen sich nun aber beim Anhören der Tragödie: nicht auf  Enthusiasmus [ Verzückung], sondern auf fobos [ Furcht, Schrecken] und eleos [Mitleid, Jammer] gegründet  (wozu auch die Dispositionen allgemein im Menschen liegen). Auch als Zuschauer einer Tragödie erfährt man Erregungen, nämlich solche, in denen sich einem die Haare sträuben und das Herz bebt und Tränen in die Augen treten; auch hier kehrt man, wenn die Tragödie richtig gemacht ist, am Schluss wieder in die Normallage zurück [...], und ebenso wie in jenen Verzückungsekstasen ist diese Rückkehr in die Normallage auch hier so, als hätte man eine Kur und zwar eine >Reinigung<, wie jene medizinische, erfahren: nämlich eine mit Lust verbundene, und diese Lust ist unschädlich.

 

Quelle: Schadewaldt, Wolfgang: Furcht und Mitleid?. - In: Sch.,W.: Antike und Gegenwart. -München: dtv (Band 342) 1966. S.43 ff.

 

INHALT

 

1.         Freytagsche Pyramide

2.         Episches Theater (1), Kritik an Aristoteles

3.         Personen

4.         Kernszenen

5.         Kirche

6.         Wissenschaft + Glaube

7.         Galileis Widerruf

8.         Vergleich der Fassungen

9.         episches Theater (2)

10.      Zusammenfassung