POSA (SCHILLER „DON KARLOS“)
Max Kommerell: Kritik an Posas Staatsbegriff (1928)
»Der Staatsbegriff Posas - es ist der damalige Staatsbegriff Schillers - ist die Verneinung und Vernichtung alles Staatlichen. >Sanftere Jahrhunderte<, >Mildere Weisheit<, >Bürgerglück ... versöhnt mit Fürstengröße< und endlich >Gedankenfreiheit<, in der die Geister blühen und reifen - dies sind die Schlagworte der Jungschillerzeit, zu deren Anerkennung Posa den schlauen alten Spanier zwingen will, und leicht ergänzen wir zu ihnen die Gegenworte, vor denen der Freiheitsverkündiger von damals sich bekreuzigt wie vor dem Gottseibeiuns und die doch nur die Hauptbedingnis jeder Gründung sind: Stufung, Zucht, Gesetzlichkeit des körperlichen und unbedingt geltende Maße des geistigen Lebens. In diesem Prunk-Auftritt stößt Schiller dasselbe zu wie nachher beim Gespräch Philipps mit dem Großinquisitor: obwohl er in Posa die reinste, in Philipp eine abscheuliche Ansicht der Dinge reden lassen will, hören wir noch aus den mißtönigsten Erwiderungen Philipps mehr Richtiges heraus als aus den hochsinnigen und bildergeschmückten Reden Posas. . und des Königs Widerlegung sagt nur, was jeder reife Geist, und am meisten der um ein Jahrzehnt ältere Schiller solchen Gedanken entgegnen wird. Posa will die Menschlichkeit auf Kosten des Staates, Philipp den Staat auf Kosten der Menschlichkeit. Da aber die Rede geht um die Staatsform, hat der König recht, der Marquis unrecht. Der Verfasser der Ästhetischen Briefe beantwortet dieselbe Frage sehr anders ... von dieser Stufe aus erscheint das Staatsgespräch, das - von vielen als Gipfel der dramatischen Dichtung Schillers betrachtet - sich nur in den Einwänden Philipps über die herkömmliche Zeitmeinung erhebt, als eine um der treibenden Leidenschaft willen bedeutende, dem Inhalt nach Schiller selbst belächelnswerte Irrung seiner Werdezeit.
(Aus: M. K., Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik, 1928)
Hermann Pongs: Philipp und Marquis Posa (1935)
Vom Gewitterhintergrund des Absolutismus heben sie sich ab: die Idee der Allmacht, die zur Aura des Herrschers gehört, und die Idee der Freiheit, die das Dienen allein menschenwürdig macht. Werden Völker durch Freiheit groß oder durch Zwang? Ein Weltthema! Ebenbürtig stehen sich die Gegner gegenüber: absolutes Staatsprinzip und Prinzip der Völkerfreiheit, statischer und dynamischer Lebensrhythmus, eingesenkt in die Existenz als Erfahrenheit des Alters und Enthusiasmus der Jugend, dramatisch verdichtet zur Auseiandersetzung zwischen Vater und Sohn. Und wie hinter der Vatermajestät die Kirche, der uralte Großinquisitor aufragt, so steht dem schwärmerischen Königssohn der scharfsichtige Verschwörer zur Seite. Dieser Aufeinanderstoß endet tragisch. Die staatliche Macht vernichtet die Wortführer der Freiheit um der Ruhe der Welt, der Befriedung der Völker willen; und damit zerstört sie zugleich den göttlichen Funken geschichtlichen Lebens in sich selbst. Dieser göttliche Funke war auch in Philipp nicht erloschen. Er lebt in der inneren Ehrfurcht vor der ihm von Gott verliehenen Majestät und in der geheimen Sehnsucht nach dem ebenbürtigen Mitmenschen. Das Vertrauen, das Philipp Posa entgegenbringt, schließt unendliche Möglichkeiten auf. In den Mittelpunkt der ganzen Tragödie ist der tragische Augenblick gerückt, wo die gottgegebene Gelegenheit zum Ausgleich der feindlichen Spannungen, der Kairos, die Großen der Erde antritt und von der menschlichen Unzulänglichkeit verfälscht und versäumt wird. Das einzige Mal, wo Philipp, der Tyrann, rein vertraut, ist Posa, der ldealist, (um der Verwirklichung willen) nicht reiner Spiegel der ldee, sondern gleichzeitig eigenwillig verschlagener Politiker. Eben damit aber ist zugleich der Weltzwiespalt von Geist und Leben, der die Urbildzüge der Schillerschen Tragik trägt, eingesenkt in die Seele dieses reinsten Idealisten der Freiheit... Posa wird tragisch im Sichverstricken in die selbstgesponnenen Intrigen, denen er das heldische Trotzdem der ldee dennoch abringt in der Aufopferung für den Freund. Die vielverzweigte Intrigenwelt des Dramas wird zum Sinnbild für die niederziehenden Wirklichkeiten des menschlichen Daseins überhaupt, des geschichtlichen Bios in seiner ganzen bedrohlichen Gewalt.
(Aus: H. P., Schillers Urbilder, Stuttgart 1935, S. I5—21)
Benno v. Wiese: Ordnung und Religion (1948)
Das >Ideal< ist eine weit in die Zukunft vorausgreifende politische Idee, ein enthusiastischer Entwurf, für den der Freiheitskampf der flandrischen Völker eine stellvertretende, symbolische Bedeutung erhält. Dort, wo das Ideal sich der Herzen der Menschen bemächtigt, entfaltet es auch noch in einer ganz entgegengesetzten geschichtlichen Wirklichkeit eine utopische Kraft, die alle Finsternisse der Geschichte transzendiert und alle tragischen, individuellen Verflechtungen auf ein übertragisches, jenseitiges Ziel bezieht. Mit dieser übertragischen, politischen Idee ist nun nicht nur weltbürgerliche Freiheit und Humanität gemeint, sondern darüber hinaus die gerechte, auf Gewissen, Freiheit und Wahrheit ruhende politische Ordnung, die der Finsternis der Geschichte erst abgerungen werden muß. Was Marquis Posa in der Audienzszene als Glaubensbekenntnis dem spanischen Welttyrannen vorträgt, das ist eine im Religiösen gründende Ordnung, die im Irdischen verwirklicht werden soll, wenn die väterliche, vollkommene, göttliche Schöpfung ihr Abbild in einem >Weltgebäude der Geister< findet, das jedem Menschen das Gefühl seines Rechtes und seines Wertes zurückgibt. Statt der Einsamkeit des tyrannischen Herrschers, der nicht Mensch und nicht Gott sein kann, fordert Posa den Herrscher in der Gemeinschaft, den Volkskönig, in dem das Ewige und Wahre seine Stellvertretung gefunden hat und der verlorene Adel der Menschheit von neuem repräsentiert wird. In Marquis Posas Ideal lebt der Glaube an eine Thodizee, an eine Heilsordnung, die immer erst im Kommen ist, aber für die einzustehen eine nicht nur politische, sondern auch religiöse Entschiedenheit verlangt, die den absoluten Wert in einer bedingten Welt durchsetzen will und inmitten von Macht, Täuschung und Intrige um ein überirdisches, göttliches Reich ringt, das im Irdischen sich gleichnishaft spiegelt. Schillers Schritt in die Welt der Politik bedeutet von der ldee her gesehen die Umsetzung eines religiösen Urerlebnisses in eine geschichtliche, an die Zukunft appellierende Forderung, die der Tat und des Opfers des Menschen bedarf, um sich vor der Weltgeschichte zu beweisen. Politisches Handeln im Sinne Posas ist ein Einstehen für die dauernden und gültigen Werte einer dem Göttlichen verpflichteten Menschheit noch gegen alle Tyrannei der Macht, die zugleich eine Tyrranis des Bösen ist [...]
Der Reichtum dieser dialektischen Gestaltung, bei der der freie, sich selbst treue Wille des Menschen mit der Notwendigkeit des geschichtlichen Schicksals ringt, die Gewissensrebellion mit der Regentenkunst, die Freundschaft mit der Macht, der schwärmerische Opfertod für den Menschen mit der Majestät des Königs, der unbedingte Wert mit der Bedingtheit der irdischen Ordnung, das alles läßt sich nicht auf eine einheitliche Formel bringen.
Von Wiese, Benno: Die dt. Tragödie von lessing bis Hebbel. – Hamburg: Hoffmann & Campe, 1948.