Helmut Lethen: Neue
Sachlichkeit
Die Abwehr der
„Asphaltzivilisation“ wurde durch die Erfahrung der Inflation verschärft. Der
Kulturpessimismus, der den Krieg als Flucht vor dem Zivilisationsalltag begrüßt
hatte, hielt die zivile Orientierung in der technischen Umwelt mit Angst
besetzt. [...]
Die neuen Formen der Wahrnehmung,
die in diesem Jahrzehnt im Zeichen der „Neuen Sachlichkeit“ entwickelt werden,
entstehen unter dem Druck des überstürzten Akts der Synchronisierung, der das
vertraute deutsche Interieur des romantischen Pessimismus zeitweilig zerstört.
Das macht den Habitus des Einverständnisses verständlich, der in allen
Kunstsparten zu einem Ausgleich von künstlerischen Ideenbildern mit der
industriell bestimmten Pragmatik des Alltags führen soll, und erklärt die
Moden des <Technikkults> und des <Amerikanismus> in der Weimarer
Republik. 1930 hieß es, schon im Rückblick auf diese Mode:
„Lange
genug war bei uns die glorreiche Disziplin der Technik nur in der Form von
Tank, Mine, Blaukreuz zum Vorschein gekommen und zwecks Vernichtung von
Menschenleben. In Amerika stand sie im Dienst des Menschenlebens. Die
Sympathie, die man für Lift, Funkturm, Jazz äußerte, war demonstrativ. Sie war
ein Bekenntnis. Sie war eine Art, das Schwert zur Pflugschar umzuschmieden. Sie
war gegen Kavallerie; sie war für Pferdekräfte. Ihre Meinung ging dahin, den
Flammenwerfer zum Staubsauger umzuschmieden und die Pflugschar noch zum
Dampfpflug. Sie hielt es an der Zeit, daß die Zivilisation zu einer Sache der
Zivilisten werde.» [H.Joachim,1930] [...]
Mit dem Habitus der
<Sachlichkeit> wandelt sich das Leitbild des Schriftstellers. Die
künstlerische Existenz sieht sich aus ihrer marginalen Position ins Zentrum
eines Arbeitsprozesses versetzt [...] In den zu Beginn der zwanziger Jahre
bekanntgewordenen Manifesten der russischen „Konstruktivisten“ erscheint die
Kunst als „Werkzeug des allgemeinen; für Hannes Meyer ist das Künstleratelier
„wissenschaftlich-technisches Laboratorium“. Bis in den Kleidungshabitus
(Monteur-Anzug des László Moholy-Nagy, stilisierte Arbeitskluft von Bertolt
Brecht, Motorrad-Ausrüstung von Johannes R. Becher) prägt sich das neue Idol
des <Konstrukteurs> oder <Arbeiters> an der <Klassenfront>
aus. [...]
Die Reichweite der Umwertungen,
die sich im Habitus des Einverständnisses mit der Modernisierung ankündigen,
kann man sich - mit der nötigen Simplifikation - mit folgendem Schema von
Oppositionen vor Augen halten, das populären Diskursen der Zeit ihre Struktur
gibt.
[... ]
Verwurzelung
versus Mobilität
Symbiose versus Trennung
Wärme versus Kälte
Undurchsichtigkeit versus Planung
Erinnerung versus Vergessen
Sammlung versus Zerstreuung
Organismus versus Apparat
Individuum versus Typus
Original versus Reproduktion
natürlicher Zyklus versus mechanische Zeit
Dunkelheit versus Helligkeit
Die
Attitüde der „Asphaltliteratur“ besetzt den Pol von „Mobilität / Kälte /
Vergessen.“
[...] Der Habitus des „kalten Blicks“ wird von
Malern wie Otto Dix (1891 bis 1969) und George Grosz (1893 bis 1959) kultiviert.
Ernst Jünger plädiert für die „angemessene Kälte der Beobachtung“; für
„kälteres Bewusstsein“, das die Fähigkeit entwickelt, unberührt von den
Ausstrahlungen des Schmerzes und der Leidenschaft den Körper als Objekt in
verschiedenen Kraftfeldern zu betrachten. Jünger preist die Fotografie als das
kältere Medium, weil „außerhalb der Zone der Empfindsamkeit“ registriere.
[...] In der Regel [...] ist
die Vorstellung von der „kalten, wurzellosen Intelligenz“ der Neuen Sachlichkeit
eine Legende. Das Pathos der Sachlichkeit war in der Regel ein Pathos der
Simulation. In der Regel überlagern sich in dieser Literatur zwei Redeweisen,
wie in den typisch neusachlichen Redewendungen von den „seelischen Valuta“
oder „moralischen Aktie“. Unter den Manierismen des neusachlichen Stils (Terminologie
verschiedener Fachsprachen, Sprechweisen des Staatsanwalts oder des Bankiers,
Anglizismen, Zitate aus der Statistik, Charakteristiken nach Art eines
Behördenformulars) verbirgt sich der Laut
der expressionistischen Klage.
[...] Eines der auffälligsten Merkmale der
Literatur dieser Jahre ist der <Anti-Psychologismus>, der sich mit der
Tendenz zu allegorischem und emblematischen Stil der zwanziger und dreißiger
Jahre verbindet.
[...] Die Abkehr von der traditionellen
Bewußtseinspsychologie geht Hand in Hand mit der Hinwendung zu Grundsätzen des
amerikanischen „Behaviorismus“ und der sowjetischen „Reflexologie“, die Mitte
der zwanziger Jahre in Deutschland bekannt werden.
Beide wissenschaftlichen Strömungen verschieben die Aufmerksamkeit auf die
wahrnehmbare Oberfläche der Verhaltensformen (behavior). Geist und Psyche
werden von diesem neuen Blickpunkt als praktische Organe der Orientierung in
der sozialen und biologischen Umwelt aufgefaßt, als „Weltbildapparat“, wie
Konrad Lorenz (geb.1903) sie Ende der dreißiger Jahre nennen wird. Die
<Tiefe> der Motivation muß aus den Handlungsformen erschlossen werden.
[...]
Eine der interessantesten Spielarten des Anti-Psychologismus in den
neusachlichen Künsten zeigt sich in der auffälligen Dominanz der Physiognomik
und anderer physiologischer Blickweisen In den zwanziger Jahren werden dem
Verhältnis von Körperbau und Charakter, der Bedeutung der Mimik im
Handlungsfeld, der Erzeugung von Affekten durch mechanische Reize und
Körperhaltungen eine Vielzahl von Arbeiten der Ausdruckspsychologie gewidmet.
Quelle: Glaser,
H.A.(Hrsg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd.9.-Reinbek: rororo
1983. S.168ff (stark gekürzt).