INHALT
BLATT 08
'Under der linden
an der heide,
dâ unser zweier bette was,
dâ mugt ir vinden
schône beide
gebrochen bluomen unde gras.
vor dem walde in einem tal,
tandaradei,
schône sanc diu nahtegal.
Ich kam gegangen
zuo der ouwe:
dô was mîn friedel komen ê.
dâ wart ich empfangen,
hêre frouwe,
daz ich bin sælic iemer mê.
kuster mich? wol tûsentstunt:
tandaradei,
seht wie rôt mir ist der munt.
Dô het er gemachet
alsô rîche
von bluomen eine bettestat.
des wirt noch gelachet
inneclîche,
kumt iemen an daz selbe pfat.
bî den rôsen er wol mac,
tandaradei,
merken wâ mirz houbet lac.
Daz er bî mir læge,
wessez iemen
(nu enwelle got!), sô schamt ich mich.
wes er mit mir pflæge,
niemer niemen
bevinde daz, wan er unde ich,
und ein kleinez vogellîn:
tandaradei,
daz mac wol getriuwe sîn.'
'Unter der Linde,
auf der Heide,
da unser beider Lager war,
da könnt ihr schön
gebrochen finden
die Blumen und das Gras.
Vor dem Wald in einem Tal -
tandaradei -
sang schön die Nachtigall.
Ich kam gegangen
zu der Aue:
da war mein Liebster schon gekommen.
Da ward ich empfangen -
Gnädige Jungfrau! -,
daß ich für immer glücklich bin.
Ob er mich küßte? Wohl tausendmal:
tandaradei -
seht, wie rot ist mir der Mund!
Da hat er gemacht
so prächtig
ein Bett von Blumen.
Da lacht noch mancher
herzlich,
kommt er jenen Pfad daher.
An den Rosen mag er wohl -
tandaradei -
merken, wo das Haupt mir lag.
Daß er bei mir lag -
wüßte es jemand
(das verhüte Gott!), so schämt ich mich.
Wie er mit mir war,
niemals, niemand
erfahre das als er und ich
und ein kleines Vögelchen,
tandaradei -
das kann wohl verschwiegen sein.'
WALTHER VON
DER VOGELWEIDE war ein mittelhochdeutscher Dichter und typischer Vertreter der
höfischen Dichtung zur Zeit der staufischen Klassik. Er gilt als der
erfolgreichste Spruchdichter des Mittelalters und – neben WOLFRAM VON
ESCHENBACH – als der berühmteste mittelalterliche Lieddichter und Minnesänger.
Durch seine Abkehr von der hohen Minne und seine Hinwendung zur niederen und
ebenen Minne erschloss er dem Minnesang um 1200 völlig neue ästhetische Wege.
Lebensgeschichte
Die
Lebensgeschichte von WALTHER VON DER VOGELWEIDE lässt sich nur aus seinem Werk
erschließen. Danach wurde er um 1170 wahrscheinlich in Österreich (Tirol)
geboren. Geburtsjahr und Stand sind nicht sicher geklärt; wahrscheinlich
entstammt WALTHER dem niederen österreichischen Adel. Er wurde von
verschiedenen Fürsten gefördert, schon in jungen Jahren als Minnesänger von dem
österreichischen Herzog LEOPOLD V. in Wien (um 1188), zum Schluss dann von
KAISER FRIEDRICH II., an dessen Hof er ab etwa 1214 in Diensten stand.
Dazwischen wirkte er als fahrender Sänger und Spruchdichter an etlichen
Fürstenhöfen (u. a. in Thüringen, Meißen, Köln, Bayern und Passau). Den
Nachrufen verschiedener Dichter nach zu urteilen, besaß WALTHER in seinen
letzten Lebensjahren ein kleines Rittergut in Würzburg, das er um 1220 von
FRIEDRICH II. (dem Enkel BARBAROSSAs) als Lehen erhielt und wo er um 1230
gestorben sein soll. In seinem Gedicht „Ich hân mîn lehen“ (Audio 4)
reflektierte WALTHER dieses Geschehen.
Literarisches Schaffen
Das
literarische Schaffen von WALTHER VON DER VOGELWEIDE ist mit
rund 140
Sangspruchstrophen und etwa 70–90 mehrstrophigen Liedern
überliefert.
Leider sind nur drei Melodien erhalten, die in späteren Handschriften
niedergeschrieben wurden:
„Mir hat ein
lieht von Vranken“,
„Wie solt ich
den geminnen“ und
„Allerêrst
lebe ich mir werde“ (Palästinalied, ).
Die Texte
WALTHERs waren viele Jahrhunderte lang verschollen und wurden erst im 18.
Jahrhundert wiederentdeckt. Anhand dieser Texte wurde klar, dass WALTHER der
typische mittelalterliche Musikerpoet war. Seine größte literarische Leistung
waren seine Spruchdichtungen. In diesen Gedichten griff er politische,
didaktische, ethische und religiöse Themen auf. Die religiösen Sprüche und
Lieder sind von überzeugender poetischer Kraft. Die politischen
Spruchdichtungen beschäftigen sich vor allem mit der Reichsthematik; WALTHER
stellte die Frage nach dem richtigen Herrscher, kritisierte vehement die
Allmacht des Papstes und forderte eine stärkere Trennung von Kirche und Staat.
Sein kritisches Papstgedicht (s.u.) entstand wahrscheinlich am Hof des Meißener
Markgrafen DIETRICH, einem Anhänger der Welfen. WALTHER wird heute als
bedeutendster Verfasser zeitkritischer Lyrik seiner Zeit angesehen; seine
politische Spruchdichtung gilt als der Beginn der politischen Dichtung in
deutscher Sprache.
Ahî wie
kristenlîche nû der bâbest lachet,
swenne er
sînen Walhen seit: „ich hânz alsô gemachet!“
daz er dâ
seit, des solt er niemer hân gedâht.
er giht: „ich
hân zwên Allamân under eine krône brâht,
daz siz rîche
sulen stœren unde wasten.
ie dar under
mülin in ir kasten:
ich hâns an
mînen stoc gement, ir guot ist allez mîn.
Hei, wie
christlich sich jetzt der Papst [ins Fäustchen] lacht,
wenn er zu
seinen Italienern sagt: „Ich habe das Ding so gedreht!“
Was er da
sagt, sollte er nicht einmal gedacht haben.
Er sagt
[nämlich]: „Ich habe zwei Deutsche unter eine Krone gebracht,
damit sie das
Reich verwirren und verwüsten;
währenddessen
mülin ihnen ihre Truhen.
Ich habe sie
an meinen Opferstock getrieben, ihr ganzes Geld gehört mir.
Neben den
Spruchdichtungen schrieb WALTHER vor allem Liebeslyrik. Die Mehrzahl seiner
Lieder beschäftigt sich mit der Minnethematik. Als Minnesänger besang er
zunächst das Ideal der hohen Minne: die ehrenhafte, aber aussichtslose Liebe zu
einer höherstehenden Adelsdame. Während seiner Zeit in Wien wurde er hier zum
Konkurrenten REINMARS DES ALTEN.
Später entwickelte er ein Gegenkonzept der
niederen Minne, die Forderung nach erfüllbarer bzw. erfüllter gegenseitiger
Liebe und einer gleichberechtigten Beziehung („Unter der linden an der heide“,
„Nemt, frowe, disen kranz“, „Herzeliebes frowelîn“, „Muget ir schouwen“).
Letztendlich versuchte er, in der sogenannten ebenen Minne idellen Anspruch und
geglücktes Liebeswerben zu vereinen ). Diese neue minnetheoretische Position,
in der die geliebte Frau nicht durch ihren gesellschaftlichen Stand, sondern
durch ihre inneren Werte (Anmut, Treue, Güte, Liebe) begehrenswert wird, erschloss
dem Minnesang neue ästhetische Wege.
1) Als
Mädchenlied wird eine Sonderform des Minnesangs bezeichnet. In den
Mädchenliedern wird die erfüllte Liebe zwischen einem adligen Herrn und einem
Mädchen aus dem Volk beschrieben.
Zu den eindrucksvollsten Texten WALTHERs
zählen die seines Alterswerkes. Dazu gehört insbesondere einer der
bedeutendsten Texte der deutschen Literatur, die sogenannte „Elegie“ („Owê war
sint verswunden alliu mîniu jâr“), die noch heute als Meisterstück und
Ausnahmefall innerhalb der klassischen mittelalterlichen Periode betrachtet
wird. Die Alterslyrik WALTHERs thematisiert insbesondere die Vergänglichkeit
der Welt, den Glauben an Gott und das Seelenheil des Menschen.
Die Dichtungen
WALTHERs gelten insgesamt als Höhepunkt der mittelhochdeutschen Lyrik und
hatten entsprechende Nachwirkungen auf spätere Künstler. So bildete sein
Preislied „Ir sult sprechen willekommen“ die Grundlage für das
„Deutschlandlied“ von HOFFMANN VON FALLERSLEBEN.
In der Oper
„Tannhäuser“ von RICHARD WAGNER (1845) tritt die Figur des WALTHER VON DER
VOGELWEIDE als Teilnehmer im Sängerwettstreit auf der Wartburg auf.
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