INHALT
BLATT 06 c
LIEDTH/
im thon: Ma belle je vous prie
Ach
Liebste laß vns eilen |
Wir
haben Zeit: |
es
schadet das verweilen |
Vns
beider seit. |
Der
schönen Schönheit gaben |
Fliehn
fuß für fuß |
Daß
alles / was wir haben / |
Verschwinden
muß / |
Der
Wangen zier verbleichet / |
Das
Haar wird greiß / |
Der
äuglein fewer weichet / |
Die
flamm wird Eiß |
Das
Mündlein von Corallen / |
Wird
vngestallt |
Die
Händ / alß Schnee verfallen / |
Vnd
du wirst Alt. |
Drumb
laß vns jetzt geniessen |
Der
Jugent frucht / |
Eh
dann wir folgen müssen |
Der
Jahre flucht |
Wo
du dich selber liebest / |
So
liebe mich / |
Gib
mir / daß / wann du gibest / |
Verlier
auch ich |
Liebesgedichte
von Ursula
Friedrich
[...]
Gattung
Opitz’ „Ach Liebste laß vns
eilen“trägt den Titel „Liedt“. Bezieht man sich auf die poetologischen
Ausführungen des Dichters über „Lyrica“in seinem „Buch von der deutschen
Poeterey“, so lassen sich über diese Gattungsbezeichnung bereits
charakteristische Züge des vorliegenden Gedichts ablesen: Eine Vielzahl von
Themen mittleren Charakters (genus medium), so z.B.
buhlerey
/ taentze / banckete / schoene Menscher / Gaerte / Weinberge / lob der
maessigkeit / nichtigkeit des todes / etc. [...]
soll in
einer sentenzhaften Darstellung vor allem zur Fröhlichkeit gemahnen.
Darüberhinaus eignen sich „Lyrica“besonders zum musikalischen Vortrag. Ob das
vorliegende „Liedt“, das im Untertitel auf ein französisches
Gesellschaftsgedicht verweist, sich dessen als textuelle Vorlage bedient oder
seine Melodie übernimmt, konnte in der Opitz-Forschung bislang nicht
hinreichend geklärt werden.
Form
Das vorliegende Gedicht besteht aus zwölf Versen zu je elf Silben. Die
jambischen Fünfheber haben durchweg männliche Kadenz. Nach der siebten
(unbetonten) Silbe findet sich im Schriftbild in der Regel eine Zäsur, die
durch ein breites Spatium in der typographischen Gesamtdarstellung
unterstrichen wird: der Vers wird in zwei ungleiche Abschnitte geteilt. –
Formal handelt es sich bei dem verwendeten Versmaß wohl um eine Nachbildung des
italienischen Endecasillabo, den auch Petrarca häufig verwendete. – An den
Teilversen fällt vor allen auf, daß sie sich – nach Art eines Homoioteleutons –
paarreimig binden:
Ach Liebste laß vns eilen |
Wir haben Zeit: |
Es
schadet das Verweilen |
Uns beider seit. (V.
1/2). |
Weiterhin läßt sich
konstatieren, daß die geraden Verse eingerückt sind, was sich als Aufbauprinzip
deuten läßt: jeweils zwei Verse treten als inhaltliche und funktionale Gruppe
auf.
Aufbau
„Ach Liebste laß vns eilen“hat den Charakter einer Werbung: Die Liebste muß zum
Genuß der Liebe erst ermahnt, ja verführt werden. – Funktion der ersten Gruppe
(V. 1 / 2) ist es, das Interesse des weiblichen Du und des Hörers (oder Lesers)
des Liedes zu wecken und eine Forderung an dieselben zu stellen: Ist durch die
Anrede (Allocutio) „„Ach Liebste“(V. 1) erst einmal die Aufmerksamkeit erregt,
folgt im Exordium der Aufforderungstopos „laß vns eilen“(V.1). Die – aus
heutiger Sicht paradox erscheinende – Begründung für dieses Ansinnen schließt
sich unmittelbar an: „Wir haben Zeit.“(V. 2). Das vermeintliche Paradox läßt
sich vorläufig in Bezugnahme auf das „Grimmsche Wörterbuch“in „wir haben
Eile“auflösen. Denn wer zu lange zögert, wird keine Lebenszeit mehr haben, die
Freuden der Liebe auszukosten, wie in V. 2 deutlich gemacht wird. Hier finden
sich die barocken Motive des Memento mori und des Carpe diem vereint, die
einander bedingen. – Die thesenhafte Begründung für die Carpe
diem–Aufforderung, nämlich der Verfall diesseitiger Schönheit (Vanitas-Motiv)
(V. 3 / 4), folgt auf dem Fuß und wird in der Argumenatio durch eine
Exempla-Reihung (V. 5-8) untermauert. Auch die Argumentatio läßt sich in zwei
Einheiten gliedern: Die in den Versen 5 und 6 aufgeführten Beispielen irdischer
Vergänglichkeit sind allgemeiner Natur, wohingegen die Exempla in den beiden
Folgeversen sich durch das Personalpronomen „du“als Subjekt des letzten
Teilverses der Gruppe (V. 8) auf eben jenes „Du“beziehen lassen. – Aus der
Beispielserie der Argumentatio leitet sich in der Peroratio die erneute
Aufforderung zum rechtzeitigen Liebesgenuß ab. Mit Rückbezug auf die ersten
beiden Verse konstituieren die Verse 9 und 10 mit diesen eine Art Rahmen für
das Gedicht, das mit der inhaltlichen Paraphrase unter dem Zusatz der
Unabänderlichkeit der Vergänglichkeit (V. 10) nach inhaltlich-logischen
Kriterien bereits enden könnte. Die beiden Schlußverse (V. 11/12) enthalten -
dem barocken Stilprinzip der argutia folgend - eine kunstvoll verrätselte und
resümierende Schlußpointe, die eine zusätzliche gedankliche Komponente ins
Spiel bringt: das Ideal der Gegenseitigkeit von Liebe.
Interpretation
Allgemeingültiger Charakter und
belehrende Intention
In „Ach Liebste laß vns eilen“wendet sich das männliche lyrische Ich an ein
weibliches Du, eine Liebste, die nicht weiter benannt wird. Ob sich das Gedicht
überhaupt an eine konkrete Person richtet, mag dahingestellt sein, ist auch
nicht von Bedeutung: In der Vorstellung barocker Schriftsteller ist die Liebe
keine private Angelegenheit, sondern Sujet geistreicher Gedankenspiele, wie
besonders auch Opitz in seinem „Buch von der deutschen Poeterey“zum Ausdruck
bringt:
[...]
weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie [die Dichter, Anm. d.
Verf.] jhren subtilen Verstand scherffen /und niemals mehr sinnreiche gedancken
vnd einfaelle haben /als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen
schoene/jugend / freundligkeit/haß vnnd gunst reden.
Auch das vorliegende
Lied hat nicht persönlichen, sondern allgemeingültigen Charakter. Seine
öffentlich-belehrende Intention wird durch das in petrarkistischer Tradition
stehende Inventar des Schönheitslobes in der Exempla-Reihung unterstrichen.
Ebenso haben die Kontrastpaare Farbe-Farblosigkeit („Der Wangen zier verbleichet/
Das Haar wird greiß / „(V. 5)), Hitze-Kälte („Der äuglein fewer weichet“(V. 6))
und Flamme-Eis („Die flamm wird Eiß“(V. 6)) den Status von Topoi.
Dichotomische Struktur
Die Huldigunstopoi („Der Wangen zier“(V. 5), „das Haar“(V. 5), „Der äuglein
fewer“(V. 6), „Die flamm“(V. 6), „Das Mündlein von Corallen“(V. 7) und auch die
„Händ“(V. 8)) vermitteln durch ihre Erststellung in den kurzen Sätzen den
Eindruck, das lyrische Ich wolle zu reinem Schönheitspreis ansetzen, der dann
doch – entgegen der Erwartung des Lesers – negiert wird:
Das Mündlein von Corallen |
Wird vngestallt. (V. 7) |
Es liegt eine
dichotomische Struktur vor, die auch in der typographischen Gestaltung des
Gedichts Ausdruck findet. So kann man in der rechten Spalte ein Übergewicht an
Vergänglichkeitsäußerungen festmachen (V. 3-8 – und je nach Interpretation des
Zeitbegriffs auch V. 1). In der linken Spalte kann demgegenüber eine Betonung
irdischer Schönheit konstatiert werden (V. 3, 4, 7). Allerdings herrscht keine
schematische Entsprechung von Form und Inhalt nach dem Muster „linke Spalte –
irdische Schönheit“, „rechte Spalte – Verfall und Vergänglichkeit“vor. Vielmehr
durchdringen sich die beiden Sphären in dem Maße, daß der Verfall der Schönheit
beschleunigt erscheint:
z.B. „Der Wangen zier
verbleichet / |
Das Haar wird greiß“(V.
5) |
Gemäß den angewandten
Topoi, die die Hinfälligkeit weiblicher Reize zum Ausdruck bringen und damit
das weibliche Du von der Notwendigkeit des Carpe diem überzeugen sollen, nimmt
sich das lyrische Ich als Mann vorerst von den dargestellten
Verfallserscheinungen aus (V. 5–8), was in V. 8 durch das metrisch betonte
„du“(„Vnd du wirst Alt.“– x x' x x –) noch hervorgehoben wird. Erst in V. 9
bezieht es sich in die Conclusio mit ein, und stellt somit wieder den Bezug zur
These allgemeiner menschlicher Vergänglichkeit her (V. 4).
Zeitbegriff und Zeitstruktur
Von besonderer Bedeutung ist die Zeistruktur des Gedichts, die sich auf eine
epchenspezifische Vorstellung von „Zeit“zurückführen läßt. In V. 1 kann
„Zeit“nicht nur als „Eile“interpretiert werden, sondern auch als „rechte Zeit“.
Diese Interpretation entspräche auch der These Segebrechts, hinter dem
verwendeten Zeitbegriff stehe die Vorstellung der antiken Göttin Occasio, der
Göttin der Gelegenheit und des richtigen Zeitpunktes. Versteht man „Zeit“als
„rechte Zeit/Gelegenheit“, so wird das Carpe diem-Motiv in den Vordergrund
gerückt. Ebenfalls betont wird es, wenn wir „Zeit“als „kraftvolle Jugend- und
Manneszeit“interpretieren. Die letztgenannte Deutung impliziert im Umkehrschluß
aber auch Memento mori und Vanitas, gilt Jugend doch als sehr kurzlebiges
Phänomen. Noch stärker apostrophiert werden diese beiden Motive, wenn man einen
christlich-theologischen Zeitbegriff zugrundlegt: „Zeit“im Sinne von
„Zeitlichkeit/Endlichkeit diesseitiger Existenz.“– Die genannten Deutungen
spielen in „Wir haben Zeit“(V. 1) ineinander, sie vereinigen Carpe diem-,
Vanitas- und Memento mori- Motiv. Zur Ausnutzung der – den Liebenden noch
verbleibenden Zeit – wird in den Versen 3-10 gemahnt, nun unter Bezugnahme auf
eine weitere Spielart des Zeitbegriffes: „Zeit“wird als „tempus“– im Sinne
einer voranschreitenden Zeit – verstanden. Diese Zeitvorstellung äußert sich
deutlich in der Zeitstruktur des Gedichts: Durch die Drängung der Beispiele menschlicher
Vergänglichkeit (V. 5-8) wird zur Eile gemahnt, umso mehr als die „Kraft der
Vergänglichkeit geradezu sichtbar wird“, wie Gellinek bemerkt. Er stellt fest,
daß der Verfall irdischer Schönheit durch die Verwendung von Präsens für ein
eigentlich in der Zukunft liegendes Geschehen zu einem in der Gegenwart
stattfindenden Prozeß umgewandelt wird. So dichtet Opitz z.B.
Der Wangen zier
verbleichet / |
Das Haar wird greiß / (V.
5). |
Seinen
Höhepunkt findet dieses Verfahren in
[...] Und du wirst Alt
(V. 8). |
|
Dieser
drastischen Vorwegnahme der unausweichlichen Zukunft wird die Aufforderung zum
Carpe diem im Jetzt gegenübergestellt:
Drumb laß vns jetzt
geniessen |
Der Jugent frucht / |
Eh
wir dann folgen müssen |
Der Jahre flucht. (V. 9 /
10) |
Schlußpointe
In der Schlußpointe wird wiederum – parallel zu den Versen 1 und 8 – das
weibliche Du angesprochen. Hinter dem verrätselten
Wo du dich selber liebest
/ |
So liebe mich / (V. 11) |
steckt nochmals die
Ermahnung zum Carpe diem. Das lyrische Ich appelliert an seine „Liebste“, sich
im Jetzt, in der Blüte ihrer Jugend, selbst zu lieben und dadurch dem Geliebten
die Möglichkeit zu geben, ihr seine Liebe zuzuwenden. Damit könnte das lyrische
Ich nicht nur auch selbst seine eigene Junged genießen, sondern würde gleichzeitig
der Geliebten das zurückgeben können, was er von ihr erhält:
Gib mir / daß / wann du
gibest / |
Verlier auch ich. (V.
12). |
Redundanz und Klangwirkung
Insgesamt ist das Gedicht sehr redundant, immer wieder wird das Carpe
diem-Motiv betont. Auch seine auffälligen Klangwirkungen sind der Intention des
rhetorischen „persuadere“untergeordnet: Die Assonanzen innerhalb eines Verses,
z.B.
Das Mündlein von Corallen |
Wird vngestallt. (V. 7), |
signalisieren die
lautliche Zusammengehörigkeit des durch ein Spatium getrennten Verses und
unterstreichen damit die Durchdringung von Gegenwart und Zukunft, den bereits
im Jetzt einsetzenden Verfall. Gleiche Wirkung wird von den paarreimigen
Teilversen vor der Zäsur vor allem in der Argumentatio erreicht. Die Teilverse
Der Wangen zier
verbleichet / |
[...] |
Der
äuglein fewer weichet / |
[...] |
Das Mündlein von Corallen |
[...] |
Die
Händ / alß Schnee verfallen / |
[...]
(V. 5-8) |
lassen sich auch
vertikal sinnvoll lesen. Darüberhinaus können auch die Alliterationen und die
figura etymologica in V. 3
Der schönen Schönheit
gaben / |
Fliehn fuß für fuß (V. 3) |
als „angemessener
Schmuck“für das stark auf Überredung und Verführung ausgerichtete Gedicht
interpretiert werden.
Exkurs: „Occasio“oder die „Göttin
der Gelegenheit“
Opitz hat die Allegorie der Occasio nicht neu in die Literatur eingeführt;
vielmehr hat er diesen Topos aus der Antike übernommen: Als jüngster Sohn von
Zeus tritt die Gottheit erstmals im V. Jahrhundert auf. Der Jüngling
personifiziert die Vorstellung von „Kairos“, des rechten Maßes, vor allem aber
des günstigen Zeitpunktes. Auffällig ist die Frisur von Kairos: Während sein
Haar an Scheitel und Hinterkopf glatt anliegt, fällt es in langen Locken über
Wange und Nacken und bis auf die Schulter hinab oder zieht sich in einem freien
Büschel über die Stirn. Horst Rüdiger verweist in seinem Aufsatz „Göttin
Gelegenheit“auf die auf Kairos bezogene Redewendung „die Gelegenheit beim
Schopfe packen“. – In der lateinischen Dichtung verwandelt sich Kairos in eine
Frau („Occasio“) und betont in besonderem Maße den Aspekt des richtigen
Augenblicks. Besonders in Renaissance und Barock wird die Vorstellung der
„rechten Zeit“wiederaufgenommen. Man findet sie bereits im „Emblematum
liber“des Andrea Alciato (1531). Auch und vor allem Opitz hat sich immer wieder
des Motivs angenommen und schreibt ihm grundsätzliche poetologische Bedeutung
zu. In seinem „Buch von der deutschen Poeterey“von 1624 legt Opitz fest, daß
nur dann ein der Poesie würdiges und den Sylven zuzurechnendes Gedicht
entstehen könne, wenn „rechte Zeit“und „Gelegenheit“zusammenträfen, um ein „aus
geschwinder anregung vnnd hitze“resultierende Eingebung niederzuschreiben.
http://www.erlangerliste.de/barock/opitzgoe.html#fn13