LIEBESLYRIK

 

INHALT

BLATT 06 c

 

Martin Opitz: Ach Liebste laß vns eilen

 

 

LIEDTH/
im thon: Ma belle je vous prie

 

Ach Liebste laß vns eilen

Wir haben Zeit:

     es schadet das verweilen

Vns beider seit.

Der schönen Schönheit gaben

Fliehn fuß für fuß

     Daß alles / was wir haben /

Verschwinden muß /

Der Wangen zier verbleichet /

Das Haar wird greiß /

     Der äuglein fewer weichet /

Die flamm wird Eiß

Das Mündlein von Corallen /

Wird vngestallt

     Die Händ / alß Schnee verfallen /

Vnd du wirst Alt.

Drumb laß vns jetzt geniessen

Der Jugent frucht /

     Eh dann wir folgen müssen

Der Jahre flucht

Wo du dich selber liebest /

So liebe mich /

     Gib mir / daß / wann du gibest /

Verlier auch ich

 

Liebesgedichte
von Ursula Friedrich

[...]

Gattung


Opitz’ Ach Liebste laß vns eilen“trägt den Titel „Liedt“. Bezieht man sich auf die poetologischen Ausführungen des Dichters über „Lyrica“in seinem „Buch von der deutschen Poeterey“, so lassen sich über diese Gattungsbezeichnung bereits charakteristische Züge des vorliegenden Gedichts ablesen: Eine Vielzahl von Themen mittleren Charakters (genus medium), so z.B.

buhlerey / taentze / banckete / schoene Menscher / Gaerte / Weinberge / lob der maessigkeit / nichtigkeit des todes / etc. [...]

soll in einer sentenzhaften Darstellung vor allem zur Fröhlichkeit gemahnen. Darüberhinaus eignen sich „Lyrica“besonders zum musikalischen Vortrag. Ob das vorliegende „Liedt“, das im Untertitel auf ein französisches Gesellschaftsgedicht verweist, sich dessen als textuelle Vorlage bedient oder seine Melodie übernimmt, konnte in der Opitz-Forschung bislang nicht hinreichend geklärt werden.


Form


Das vorliegende Gedicht besteht aus zwölf Versen zu je elf Silben. Die jambischen Fünfheber haben durchweg männliche Kadenz. Nach der siebten (unbetonten) Silbe findet sich im Schriftbild in der Regel eine Zäsur, die durch ein breites Spatium in der typographischen Gesamtdarstellung unterstrichen wird: der Vers wird in zwei ungleiche Abschnitte geteilt. – Formal handelt es sich bei dem verwendeten Versmaß wohl um eine Nachbildung des italienischen Endecasillabo, den auch Petrarca häufig verwendete. – An den Teilversen fällt vor allen auf, daß sie sich – nach Art eines Homoioteleutons – paarreimig binden:

Ach Liebste laß vns eilen

Wir haben Zeit:

     Es schadet das Verweilen

Uns beider seit. (V. 1/2).


Weiterhin läßt sich konstatieren, daß die geraden Verse eingerückt sind, was sich als Aufbauprinzip deuten läßt: jeweils zwei Verse treten als inhaltliche und funktionale Gruppe auf.

Aufbau


„Ach Liebste laß vns eilen“hat den Charakter einer Werbung: Die Liebste muß zum Genuß der Liebe erst ermahnt, ja verführt werden. – Funktion der ersten Gruppe (V. 1 / 2) ist es, das Interesse des weiblichen Du und des Hörers (oder Lesers) des Liedes zu wecken und eine Forderung an dieselben zu stellen: Ist durch die Anrede (Allocutio) „„Ach Liebste“(V. 1) erst einmal die Aufmerksamkeit erregt, folgt im Exordium der Aufforderungstopos „laß vns eilen“(V.1). Die – aus heutiger Sicht paradox erscheinende – Begründung für dieses Ansinnen schließt sich unmittelbar an: „Wir haben Zeit.“(V. 2). Das vermeintliche Paradox läßt sich vorläufig in Bezugnahme auf das „Grimmsche Wörterbuch“in „wir haben Eile“auflösen. Denn wer zu lange zögert, wird keine Lebenszeit mehr haben, die Freuden der Liebe auszukosten, wie in V. 2 deutlich gemacht wird. Hier finden sich die barocken Motive des Memento mori und des Carpe diem vereint, die einander bedingen. – Die thesenhafte Begründung für die Carpe diem–Aufforderung, nämlich der Verfall diesseitiger Schönheit (Vanitas-Motiv) (V. 3 / 4), folgt auf dem Fuß und wird in der Argumenatio durch eine Exempla-Reihung (V. 5-8) untermauert. Auch die Argumentatio läßt sich in zwei Einheiten gliedern: Die in den Versen 5 und 6 aufgeführten Beispielen irdischer Vergänglichkeit sind allgemeiner Natur, wohingegen die Exempla in den beiden Folgeversen sich durch das Personalpronomen „du“als Subjekt des letzten Teilverses der Gruppe (V. 8) auf eben jenes „Du“beziehen lassen. – Aus der Beispielserie der Argumentatio leitet sich in der Peroratio die erneute Aufforderung zum rechtzeitigen Liebesgenuß ab. Mit Rückbezug auf die ersten beiden Verse konstituieren die Verse 9 und 10 mit diesen eine Art Rahmen für das Gedicht, das mit der inhaltlichen Paraphrase unter dem Zusatz der Unabänderlichkeit der Vergänglichkeit (V. 10) nach inhaltlich-logischen Kriterien bereits enden könnte. Die beiden Schlußverse (V. 11/12) enthalten - dem barocken Stilprinzip der argutia folgend - eine kunstvoll verrätselte und resümierende Schlußpointe, die eine zusätzliche gedankliche Komponente ins Spiel bringt: das Ideal der Gegenseitigkeit von Liebe.

Interpretation


Allgemeingültiger Charakter und belehrende Intention


In „Ach Liebste laß vns eilen“wendet sich das männliche lyrische Ich an ein weibliches Du, eine Liebste, die nicht weiter benannt wird. Ob sich das Gedicht überhaupt an eine konkrete Person richtet, mag dahingestellt sein, ist auch nicht von Bedeutung: In der Vorstellung barocker Schriftsteller ist die Liebe keine private Angelegenheit, sondern Sujet geistreicher Gedankenspiele, wie besonders auch Opitz in seinem „Buch von der deutschen Poeterey“zum Ausdruck bringt:

[...] weil die liebe gleichsam der wetzstein ist an dem sie [die Dichter, Anm. d. Verf.] jhren subtilen Verstand scherffen /und niemals mehr sinnreiche gedancken vnd einfaelle haben /als wann sie von jhrer Buhlschafften Himlischen schoene/jugend / freundligkeit/haß vnnd gunst reden.


Auch das vorliegende Lied hat nicht persönlichen, sondern allgemeingültigen Charakter. Seine öffentlich-belehrende Intention wird durch das in petrarkistischer Tradition stehende Inventar des Schönheitslobes in der Exempla-Reihung unterstrichen. Ebenso haben die Kontrastpaare Farbe-Farblosigkeit („Der Wangen zier verbleichet/ Das Haar wird greiß / „(V. 5)), Hitze-Kälte („Der äuglein fewer weichet“(V. 6)) und Flamme-Eis („Die flamm wird Eiß“(V. 6)) den Status von Topoi.

Dichotomische Struktur


Die Huldigunstopoi („Der Wangen zier“(V. 5), „das Haar“(V. 5), „Der äuglein fewer“(V. 6), „Die flamm“(V. 6), „Das Mündlein von Corallen“(V. 7) und auch die „Händ“(V. 8)) vermitteln durch ihre Erststellung in den kurzen Sätzen den Eindruck, das lyrische Ich wolle zu reinem Schönheitspreis ansetzen, der dann doch – entgegen der Erwartung des Lesers – negiert wird:

Das Mündlein von Corallen

Wird vngestallt. (V. 7)


Es liegt eine dichotomische Struktur vor, die auch in der typographischen Gestaltung des Gedichts Ausdruck findet. So kann man in der rechten Spalte ein Übergewicht an Vergänglichkeitsäußerungen festmachen (V. 3-8 – und je nach Interpretation des Zeitbegriffs auch V. 1). In der linken Spalte kann demgegenüber eine Betonung irdischer Schönheit konstatiert werden (V. 3, 4, 7). Allerdings herrscht keine schematische Entsprechung von Form und Inhalt nach dem Muster „linke Spalte – irdische Schönheit“, „rechte Spalte – Verfall und Vergänglichkeit“vor. Vielmehr durchdringen sich die beiden Sphären in dem Maße, daß der Verfall der Schönheit beschleunigt erscheint:

z.B. „Der Wangen zier verbleichet /

Das Haar wird greiß“(V. 5)


Gemäß den angewandten Topoi, die die Hinfälligkeit weiblicher Reize zum Ausdruck bringen und damit das weibliche Du von der Notwendigkeit des Carpe diem überzeugen sollen, nimmt sich das lyrische Ich als Mann vorerst von den dargestellten Verfallserscheinungen aus (V. 5–8), was in V. 8 durch das metrisch betonte „du“(„Vnd du wirst Alt.“– x x' x x –) noch hervorgehoben wird. Erst in V. 9 bezieht es sich in die Conclusio mit ein, und stellt somit wieder den Bezug zur These allgemeiner menschlicher Vergänglichkeit her (V. 4).

Zeitbegriff und Zeitstruktur


Von besonderer Bedeutung ist die Zeistruktur des Gedichts, die sich auf eine epchenspezifische Vorstellung von „Zeit“zurückführen läßt. In V. 1 kann „Zeit“nicht nur als „Eile“interpretiert werden, sondern auch als „rechte Zeit“. Diese Interpretation entspräche auch der These Segebrechts, hinter dem verwendeten Zeitbegriff stehe die Vorstellung der antiken Göttin Occasio, der Göttin der Gelegenheit und des richtigen Zeitpunktes. Versteht man „Zeit“als „rechte Zeit/Gelegenheit“, so wird das Carpe diem-Motiv in den Vordergrund gerückt. Ebenfalls betont wird es, wenn wir „Zeit“als „kraftvolle Jugend- und Manneszeit“interpretieren. Die letztgenannte Deutung impliziert im Umkehrschluß aber auch Memento mori und Vanitas, gilt Jugend doch als sehr kurzlebiges Phänomen. Noch stärker apostrophiert werden diese beiden Motive, wenn man einen christlich-theologischen Zeitbegriff zugrundlegt: „Zeit“im Sinne von „Zeitlichkeit/Endlichkeit diesseitiger Existenz.“– Die genannten Deutungen spielen in „Wir haben Zeit“(V. 1) ineinander, sie vereinigen Carpe diem-, Vanitas- und Memento mori- Motiv. Zur Ausnutzung der – den Liebenden noch verbleibenden Zeit – wird in den Versen 3-10 gemahnt, nun unter Bezugnahme auf eine weitere Spielart des Zeitbegriffes: „Zeit“wird als „tempus“– im Sinne einer voranschreitenden Zeit – verstanden. Diese Zeitvorstellung äußert sich deutlich in der Zeitstruktur des Gedichts: Durch die Drängung der Beispiele menschlicher Vergänglichkeit (V. 5-8) wird zur Eile gemahnt, umso mehr als die „Kraft der Vergänglichkeit geradezu sichtbar wird“, wie Gellinek bemerkt. Er stellt fest, daß der Verfall irdischer Schönheit durch die Verwendung von Präsens für ein eigentlich in der Zukunft liegendes Geschehen zu einem in der Gegenwart stattfindenden Prozeß umgewandelt wird. So dichtet Opitz z.B.

Der Wangen zier verbleichet /

Das Haar wird greiß / (V. 5).

Seinen Höhepunkt findet dieses Verfahren in

[...] Und du wirst Alt (V. 8).

 

Dieser drastischen Vorwegnahme der unausweichlichen Zukunft wird die Aufforderung zum Carpe diem im Jetzt gegenübergestellt:

Drumb laß vns jetzt geniessen

Der Jugent frucht /

     Eh wir dann folgen müssen

Der Jahre flucht. (V. 9 / 10)

 

Schlußpointe


In der Schlußpointe wird wiederum – parallel zu den Versen 1 und 8 – das weibliche Du angesprochen. Hinter dem verrätselten

Wo du dich selber liebest /

So liebe mich / (V. 11)


steckt nochmals die Ermahnung zum Carpe diem. Das lyrische Ich appelliert an seine „Liebste“, sich im Jetzt, in der Blüte ihrer Jugend, selbst zu lieben und dadurch dem Geliebten die Möglichkeit zu geben, ihr seine Liebe zuzuwenden. Damit könnte das lyrische Ich nicht nur auch selbst seine eigene Junged genießen, sondern würde gleichzeitig der Geliebten das zurückgeben können, was er von ihr erhält:

Gib mir / daß / wann du gibest /

Verlier auch ich. (V. 12).

 

Redundanz und Klangwirkung


Insgesamt ist das Gedicht sehr redundant, immer wieder wird das Carpe diem-Motiv betont. Auch seine auffälligen Klangwirkungen sind der Intention des rhetorischen „persuadere“untergeordnet: Die Assonanzen innerhalb eines Verses, z.B.

Das Mündlein von Corallen

Wird vngestallt. (V. 7),


signalisieren die lautliche Zusammengehörigkeit des durch ein Spatium getrennten Verses und unterstreichen damit die Durchdringung von Gegenwart und Zukunft, den bereits im Jetzt einsetzenden Verfall. Gleiche Wirkung wird von den paarreimigen Teilversen vor der Zäsur vor allem in der Argumentatio erreicht. Die Teilverse

Der Wangen zier verbleichet /

[...]

     Der äuglein fewer weichet /

     [...]

Das Mündlein von Corallen

[...]

     Die Händ / alß Schnee verfallen /

     [...] (V. 5-8)


lassen sich auch vertikal sinnvoll lesen. Darüberhinaus können auch die Alliterationen und die figura etymologica in V. 3

Der schönen Schönheit gaben /

Fliehn fuß für fuß (V. 3)


als „angemessener Schmuck“für das stark auf Überredung und Verführung ausgerichtete Gedicht interpretiert werden.

Exkurs: „Occasio“oder die „Göttin der Gelegenheit“


Opitz hat die Allegorie der Occasio nicht neu in die Literatur eingeführt; vielmehr hat er diesen Topos aus der Antike übernommen: Als jüngster Sohn von Zeus tritt die Gottheit erstmals im V. Jahrhundert auf. Der Jüngling personifiziert die Vorstellung von „Kairos“, des rechten Maßes, vor allem aber des günstigen Zeitpunktes. Auffällig ist die Frisur von Kairos: Während sein Haar an Scheitel und Hinterkopf glatt anliegt, fällt es in langen Locken über Wange und Nacken und bis auf die Schulter hinab oder zieht sich in einem freien Büschel über die Stirn. Horst Rüdiger verweist in seinem Aufsatz „Göttin Gelegenheit“auf die auf Kairos bezogene Redewendung „die Gelegenheit beim Schopfe packen“. – In der lateinischen Dichtung verwandelt sich Kairos in eine Frau („Occasio“) und betont in besonderem Maße den Aspekt des richtigen Augenblicks. Besonders in Renaissance und Barock wird die Vorstellung der „rechten Zeit“wiederaufgenommen. Man findet sie bereits im „Emblematum liber“des Andrea Alciato (1531). Auch und vor allem Opitz hat sich immer wieder des Motivs angenommen und schreibt ihm grundsätzliche poetologische Bedeutung zu. In seinem „Buch von der deutschen Poeterey“von 1624 legt Opitz fest, daß nur dann ein der Poesie würdiges und den Sylven zuzurechnendes Gedicht entstehen könne, wenn „rechte Zeit“und „Gelegenheit“zusammenträfen, um ein „aus geschwinder anregung vnnd hitze“resultierende Eingebung niederzuschreiben.

 

http://www.erlangerliste.de/barock/opitzgoe.html#fn13