INHALT
BLATT 04
Keine Epoche
der europäischen Kulturgeschichte ist so von Widersprüchen geprägt wie das
Zeitalter des Barock, und doch hat es durch die dauernde Synthese der
unterschiedlichen Elemente kaum je einen derart dichten Zusammenhang in
Literatur, Malerei und Musik gegeben. Hatten Humanismus und Renaissance den
Blick auf das Diesseits gelenkt und ein säkularisiertes Weltbild entworfen, so
verändert das Barock, ganz im Zuge der Gegenreformation, wieder die
Perspektive: der Tod ist allgegenwärtig, die durchaus vorhandene Weltlust ist
stets von der Gewissheit ihrer Endlichkeit überschattet. Die Welt wird zwar
nicht mehr wie im Mittelalter als Jammertal gesehen, aber ihre Freuden und ihre
Schönheit haben keinen Bestand. Für das transzendente Bewusstsein der Epoche
ist alles Irdische nur Schein und Trug – und dennoch wird es nicht negiert,
sondern gerade aufgrund seiner fehlenden Dauerhaftigkeit zum Objekt des
gesteigerten Interesses, ja der Begierde.
Auch die deutsche Barockliteratur steht
im Spannungsfeld von Lebensfreude und Todesbangen, Weltgenuss und Jenseitssehnsucht.
Nirgendwo hatte sich der Tod als so allmächtig, irdisches Glück als so
wechselhaft, Hab und Gut als so unsicher erwiesen wie in den vom
Dreißigjährigen Krieg heimgesuchten Gebieten des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation. Vergänglichkeit heißt das Schlagwort: ob Christian Hofmann
von Hofmannswaldau in seinem berühmten Gedicht Vergänglichkeit der Schönheit
beim Anblick einer jungen Frau, ob Andreas Gryphius im beklemmenden Sonett Wir
sind ja nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verhehret (1637) anlässlich der
Zerstörung Magdeburgs oder Simon Dach in der Klage über den endlichen Vntergang
vnd ruinirung der Musicalischen Kürbs=Hütte vnd Gärtchens über das Verschwinden
eines harmlosen Vorstadtgärtchens, das den Königsberger Poeten – die sich
nebenbei die »Sterblichkeitsbeflissenen« nannten – als Treffpunkt diente –
immer ist die Unbeständigkeit alles Materiellen zugleich Ausdruck der
Todesgewissheit, aus jeder Zeile tönt das Memento mori ('Gedenke des
Sterbens'), welches das damalige Lebensgefühl durchdrang.
Alles, was der Mensch sich im Diesseits
ersehnt, ist eitel: Glück, Macht, Erfolg, Reichtum, Liebe, Lust: der
Vanitas-Gedanke beherrscht alle Lebensbereiche und wird auch in der Literatur
auf unterschiedlichste Weise thematisiert. Gryphius, der bedeutendste Lyriker
und Dramatiker des deutschen Barock, hat in seinen Bühnenwerken, allen voran
Leo Armenius (1650), die menschliche Geschichte nicht als Entwicklung, sondern
als Vergänglichkeit poetisch definiert; das Scheitern der Figuren geschieht
nicht aus tragischem Konflikt, es erfolgt aus transzendentaler Notwendigkeit,
denn ihr Streben nach Größe bedeutet bereits ihren Fall.
Derselbe Vanitas-Gedanke liegt Daniel
Casper von Lohensteins blutrünstigen, alle erdenklichen Laster und Verirrungen
darstellenden Stücken zugrunde (u. a. Sophonisbe, 1680), und nicht anders steht
es mit dem größten Roman der Epoche, Hans Jakob Christoph von Grimmelshausens
Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1669), dessen Held in eine Welt der
Exzesse, der Brutalität und der Gier geworfen wird und darin Höhen und Abgründe
selbst durchlebt um der Erkenntnis willen, dass alles Streben eitler Wahn ist.
Diese Grundhaltung förderte auch im hohen
Maße die Entstehung von geistlicher Dichtung. Das Kirchenlied, das durch die
Reformation – zunächst als wirkungsvolles Mittel im Konfessionsstreit – in
Deutschland zentrale Bedeutung erlangt hatte, erreichte nun durch Paul Gerhardt
(O Haupt voll Blut und Wunden), Georg Neumark (Wer nur den lieben Gott lässt
walten), Johann Rist (O Ewigkeit, du Donnerwort), Paul Fleming und andere nun
seinen Höhepunkt. Darüber hinaus schufen Gryphius, Dach, Angelus Silesius
(eigtl. Johannes Scheffler) und Daniel von Czepko religiöse Lyrik von großer
Tiefe und sprachlicher Schönheit.
Nicht nur in der geistlichen Dichtung
ist das Grelle und Wuchernde, das die Barockzeit oft kennzeichnet, weitgehend
aufgehoben. Vor allem in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts und vornehmlich
im norddeutschen Raum neigt die Literatur weniger zum Höfisch-Repräsentativen,
sondern trägt eher bürgerliche Züge, ist schlichter und strenger. Doch auch
hier wirkt sich der Geist der Epoche aus. Was sich im Extremfall als
Manieriertheit und Schnörkel manifestiert, ist auch in diesen weniger
'spektakulären' Barockdichtungen zu finden: der Wille zur Form, der im 16.
Jahrhundert noch kaum ausgeprägt gewesen war.
Nun kommt es
auf die artistische Disziplinierung an, auf die kunstvolle Anwendung poetischer
Formen. Grundlegend und von weit über seine Zeit hinausreichender Bedeutung war
das an der europäischen Renaissance und der klassischen Antike orientierte Werk
Martin Opitz', der in vielerlei Hinsicht als 'Vater der deutschen Literatur'
angesehen werden kann. Sein Œuvre umfasst Sonette, Oden und Epigramme ebenso
wie Dramen (Aristarchus, 1617) und Hirtendichtung (Schäfferey von der Nimfen
Hercinie, 1630), die allesamt zu stilistischen und formalen Vorbildern wurden.
Mit seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) schrieb er die Poetik des 17.
Jahrhunderts, in der er Gattungsabgrenzungen, Stilmittel und die Anwendung von
Dichtung behandelte. Mit seiner Forderung nach einer akzentuierenden Metrik,
durch die Wort- und Versakzent in Einklang gebracht wurden, schuf er die Voraussetzung
für die Entfaltung der deutschen Lyrik.
Mit seinen Bemühungen um die deutsche
Sprache und Dichtung stand Opitz allerdings nicht allein. Seinem Beispiel
folgten zahlreiche namhafte Literaten der Zeit und verfassten teils erweiterte,
teils anders konzipierte Poetik-Bücher, u. a. Philipp von Zesen (1640), Johann
Peter Titz (1642), Johann Klaj (1645), Georg Philipp Harsdörffer (Poetischer
Trichter, 1647–50), Andreas Tscherning (1658) und Daniel Georg Morhof (1682).
Nicht nur die Regulierung der Dichtkunst, sondern auch die Pflege und Förderung
der deutschen Sprache war das Ziel der im 17. Jahrhundert zahlreich gegründeten
Sprachgesellschaften, deren Mitglieder neben Literaten und Gelehrten sich aus
Fürsten, Adligen und Hofbeamten rekrutierten. Die bedeutendste war die
Fruchtbringende Gesellschaft (nach ihrem Wappen auch Palmenorden genannt), die
1617 ins Leben gerufen wurde. Daneben bestanden die Aufrichtige
Tannengesellschaft (1633), die Teutschgesinnte Genossenschaft (1643), der Nürnberger
Kreis der Pegnitzschäfer (1644) und der Elbschwanenorden (1658); die meisten
Dichter der Zeit gehörten als korrespondierende Mitglieder einer, meist sogar
mehreren dieser Vereinigungen an.
Welche zentrale Rolle die Form im
Barock spielte, zeigt sich nicht nur in diesen normativ-didaktischen
Bemühungen, sondern ist in den Werken selbst deutlich feststellbar. In Lyrik,
Drama und Prosa bediente man sich einer großen Vielzahl rhetorischer Figuren,
bei denen vor allem Metaphern und Allegorien als besonders komplexe
Wort-Sinn-Verbindungen den Vorrang genossen. Vorgeprägte Schemata wurden immer
wieder verwendet: antike Topoi und die zu jener Zeit zum Volksgut gewordenen
Embleme charakterisieren die Dichtwerke, die oft nur durch deren Kenntnis
entschlüsselt werden können.
In diesem literarischen Gestus treffen
sich die zwei Tendenzen des Barock: einerseits die Vorliebe für eine
Gestaltungsweise, deren Doppelbödigkeit dem Transzendenzbewusstsein entspricht,
andererseits die Neigung zum Effekthaften, die sich in der virtuosen Handhabung
des Sprachmaterials objektiviert. Jenseitsgewandtheit und Vergänglichkeitskult
sind untrennbar verbunden mit Lebenslust, ja Lebensgier: auf der Rückseite des
memento mori steht carpe diem ('Nutze den Tag').
Eine eigenartige Synthese bildeten die
Jesuitendramen, deren strenge religiöse Botschaft durch einen ungeheuren
Aufwand, ein theatralisches Feuerwerk, wie es bühnentechnisch erst wieder im
20. Jahrhundert erreicht wurde, bis zur Unkenntlichkeit übertüncht wurde: das
Spektakel der Haupt- und Staatsaktionen stand ganz im Zeichen von Pomp und
Repräsentationssucht, der Glanz der Welt, dessen Vergänglichkeit und
Sündhaftigkeit demonstriert werden sollte, gab selber den Rahmen für das
Dargestellte.
Das Barockzeitalter lebt von ständiger
Antithese, und so gehört zur düsteren Grabesthematik die Beschreibung des
drallen Lebens, zu ihr aber wiederum ihre Ironisierung und der Spott über
diejenigen, die – Sklaven ihrer Begierden – dem irdischen Glück nachjagen.
Grimmelshausens Simplicissimus, dieses monumentale Sittengemälde der
Jahrhundertmitte, enthält aus dem naiven Blickwinkel des Titelhelden mehr als
eine scharfe Satire auf das Gebaren der Zeitgenossen; Gryphius' Komödien
Absurda comica oder Peter Squenz (1644/57) und Horribilicribrifax oder wehlende
Liebhaber (1663) führen im bunten Treiben der Welt die Lächerlichkeit der
Dünkelhaften, von sich Eingenommenen und Eitlen wirkungsvoll vor.
Aber das Verkehrte und Maßlose ist auch
ein Merkmal vieler Barockwerke selbst. Der übersteigerte Formwille führte zur
Überladung mit Metaphern, die immer kühner und weithergeholter wurden, der Gehalt
wurde zugunsten des Effekts oft vernachlässigt. Schwulst: dieser Begriff
bezeichnete schon seit Ende des 17. Jahrhunderts die literarischen Erzeugnisse
der sogenannten 2. Schlesischen Schule (als deren Hauptvertreter Daniel Casper
von Lohenstein und Christian Hofmann von Hofmannswaldau gelten) und des
spätbarocken Manierismus im allgemeinen und wurde bald zum negativen Stempel
für die gesamte Epoche. Dabei gelten vor allem die Epigonen der beiden
Genannten aus heutiger Sicht noch als 'schwülstig' im Sinne von 'artifiziell
und leer', während die literarische Qualität sowohl des Dramatikers Lohenstein
wie des Marinisten Hofmannswaldau (nach Giambattista Marini) in unseren Tagen
durchaus gewürdigt wird.
Hierin spiegelt sich die
Rezeptionsgeschichte der deutschen Barockliteratur, die mit Einsetzen der Aufklärung
in Bausch und Bogen für minderwertig erklärt wurde und nur sehr zögerlich eine
Rehabilitierung erfuhr. Auch die Literaturwissenschaft hat das 17. Jahrhundert
sehr lange als Stiefkind behandelt, bis in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts
eine breite Beschäftigung mit der Literatur des Barocks begann.
Gerade die
Unausgeglichenheit, der Kontrastreichtum, die Neigung zum Extremen legen in
vielen Aspekten eine Affinität der Barockzeit zu unseren Tagen nahe. Mögen
Monstrositäten wie die von gelehrten Einschüben durchsetzten,
überdimensionierten Romane Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig, Daniel Casper
von Lohensteins und Philipp von Zesens heute ebenso belächelt werden wie die
Neuerungswut mancher Sprachgesellschafter, die etwa für Fenster »Tagleuchter«,
für Fieber »Zittersucht« und andere Wunderlichkeiten mehr vorschlugen – die
Modernität vieler Aspekte der Barockliteratur lässt sich nicht leugnen.
Die Anziehung durch das Exotische, wie
sie in den Reise- und Abenteuerromanen zum Ausdruck kam, etwa in Heinrich
Anselm von Zigler und Kliphausens Die Asiatische Banise, Oder das blutig doch
muthige Pegu (1689), finden wir im ausgehenden 20. Jahrhundert ebenso wieder
wie das gesteigerte Interesse für Rätselhaftes, Verborgenes und Okkultes, wie
es für die Schriften Athanasius Kirchners und vieler anderer Gelehrter der Zeit
charakteristisch war. Die Suche nach immer neuen Ausdrucksmitteln verbindet den
abstrus-faszinierenden Kühlpsalter von Quirinus Kuhlmann und die der Lautpoesie
sich nähernden Gedichte Johann Klajs mit experimentellen Texten von Oskar
Pastior und HC Artmann, die das Barock in ihren Schriften auch explizit einbeziehen.
Axel Sanjosé
»Die Deutschen Klassiker«, CD-ROM. X·Libris,
München 1995. Zur Epoche Barock. Seite 2 – 12
[in neuer Rechtschreibung]
http://www.xlibris.de/Epochen/Barock/Barock5.htm