LIEBESLYRIK

 

INHALT

BLATT 2

 

Dorothee Sölle: Lebenslänglich

 

 

 

Das sechste Gebot klingt ziemlich veraltet. Es stammt aus einer agrarischen Welt mit kurzen Lebenszeiten für die allermeisten Menschen, mit wenig Mobilität und einem hohen Interesse daran, zahlreiche Nachkommen zu haben. Es ist ein patriarchales Gebot, es redet den freien, grundbesitzenden Mann an, er solle die Ehe seines Nachbarmannes respektieren. Seine eigene Ehe konnte er gar nicht „brechen“, und abgesehen von der Nachbarehe hatte er weitgehend sexuelle Freiheit, die sich auf Sklavinnen, Prostituierte und junge Mädchen bezog. Die Auslegungsgeschichte und die spätere Entwicklung der Monogamie haben dieses Gebot in einem tiefen Sinn verändert, aber wir stehen am Ende dieser Epoche.

 

Was der Zeitgeist sagt

 

Die Zahl derer, die mehrere Ehen oder eheähnliche Verhältnisse leben, wächst und der Zeitgeist sagt uns: Eine Liebe reicht einfach nicht fürs Leben! Die lebenslängliche Ehe wird als ein Gefängnis angesehen, in dem alle Liebe stirbt, in dem Zuneigung, Hoffnung und Trotz erstickt werden. Flexibilität ist eine ökonomisch wichtige neue Tugend, alles ist doch im Fluss; und Langfristigkeit, Dauer und Bindung werden als sinnlose, destruktive Über-ich‑Forderungen angesehen, Schnee von vorgestern!

Mein Interesse ist nicht, das alte Gebot fundamentalistisch festzuhalten, wohl aber möchte ich eine Stimme hören, die mich an eine andere Vision von den Grundgesetzen der Liebe erinnert. Da tauchen so altmodische Wörter auf wie „Treue“, „in guten und in bösen Tagen“, „rain or shine“, „jetzt und immerdar“ oder gar „bis der Tod uns scheidet“. Die Warnung vor dem „Bruch“, den Scherben, der Zerstörung von Liebe hat nichts zu tun mit der falschen Anmaßung, die Liebe ausschließlich in der Ehe oder ausschließlich in der Heterosexualität anzusiedeln.

Der positive Sinn des Gebotes ist für die christliche Tradition einfach zu benennen und schwer zu leben: du sollst an die Liebe glauben, du sollst sie für möglich halten, sie ist wie alle Gnade ein Geschenk und zugleich eine Aufgabe, beides lebenslänglich. Ob homo‑ oder heterosexuell, das interessiert Gott nicht so sehr wie einige seiner Verwaltungsbeamten.

Ich höre aus dieser Tradition der Liebe zwei Grundsätze, die im Widerspruch zum Zeitgeist stehen. Der erste ist am schönsten bei Johann Wolfgang von Goethe formuliert, er heißt „Freiwillige Abhängigkeit, der schönste Zustand und wie wäre er möglich ohne Liebe?“ Der Zeitgeist vergötzt die Unabhängigkeit des Individuums, behauptet uns selber als autark, sich selbst genügend. Aber ist das genug zum Glück? Die wirklichen Beziehungen zwischen Menschen sind immer ein Angewiesensein, ein einander Brauchen, eine co‑dependency, die sich selbst freiwillig abhängig macht.

Wir sind einfach kleiner, dümmer, hässlicher ohne die Liebe, und je tiefer unsere Beziehung zum anderen ist, desto mehr wissen wir, wie es im Volkslied einmal heißt: „Ohne dich kann ich nicht leben, ohne dich kann ich nicht sein.“ Ich kann zwar vielleicht essen oder „genießen“ oder mich amüsieren, aber ich kann nicht „sein“. Ich muss nicht mein eigenes Lebensbrot backen, ich muss nicht meine eigene Kraftspenderin oder mein Tröster sein, ich muss nicht nur ich selber sein und mich verwirklichen, diese Grundannahme des abgelösten Individualismus zerstört, wir wissen es alle, die Erde und die anderen Lebewesen.

Textfeld:  Das feministische Denken hat zu diesem Verständnis von Gegenseitigkeit, von „freiwilliger Abhängigkeit“ wesentlich beigetragen und es gehört mitten in dieses neue Verständnis von Liebe hinein, das wir brauchen und das in dem uralten Gebot versteckt ist.

 

Liebe kein Privatding

 

Das zweite, was die Tradition lehren kann, ist, dass die Liebe kein Privatding ist, sie will mehr als das, sie braucht und will Öffentlichkeit und gerade das ist in dem alten Begriff „Ehe“ mitgedacht. Ich erinnere mich an eine lesbische Theologiestudentin, die im Gespräch mit einem Bischof sagte: „Warum wollen sie meine Liebe nicht segnen, Herr Bischof? Warum darf ich mich nicht öffentlich zeigen?“ Sie verstand besser als andere, dass die Liebe nicht etwas ist, was niemanden außer den beiden Beteiligten etwas angeht.

Die Liebe braucht ein Haus, in das viele andere hineingehen, sie braucht das Zusammenessen und Reden, das Lachen und Weinen, sie braucht Kinder, nicht notwendig die eigenen, und vielleicht gar alte Tanten, sie braucht eine Einbettung in Gemeinsamkeiten. Es ist ein zerbrechliches Haus, wer könnte das bestreiten, aber zeitweilig Spaß zu haben, ist keine Alternative zum Hausbauen! Das wirkliche Miteinander braucht mehr als das, was zwei Menschen einander geben können. Das nennt die Tradition mit einem mindestens so altmodischen Wort wie „ehebrechen“ den „Segen“.

 

Dorothee Sölle, 1929-2003, studierte Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaften. sie arbeitete als Dozentin und Autorin und zählte bald zu den profiliertesten Sprechern eines „anderen Protestantismus“. In ihren Publikationen trat sie für eine radikale Diesseitigkeit des Christentums ein. Über drei Jahrzehnte mischte sich Dorothee Sölle immer wieder in Politik, Kirche und Theologie ein und stieß oft auf Widerstand der Amtskirchen. 1995 erschienen ihre Erinnerungen unter dem Titel „Gegenwind“. Zuletzt veröffentlichte sie (zusammen mit Luise Schottroff) „Den Himmel erden“ und „Jesus von Nazareth“.

 

Quelle: RP-Serie „Die Zehn Gebote“ (VI), 27.11.1999