Heinrich von Kleist
Über die allmähliche Verfertigung
der Gedanken beim Reden
An R[ühle]
v. L[ilienstern]
Wenn du
etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich
dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt,
darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein,
auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum befragen solltest: nein!
Vielmehr sollst du es ihm selber allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen
machen, und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von
nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber
sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus
der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so könnten,
für verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander
bestehen. Der Franzose sagt, l'appétit vient en mangeant, und dieser
Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l'idée vient en
parlant. Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche,
in einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu
beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen, als in
den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein innerstes Wesen begriffen
ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe
vorkommt, den ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse
ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht
ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter
mir sitzt, und arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht
stundenlanges Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es
mir, im eigentlichen Sinne sagte; denn sie kennt weder das Gesetzbuch,
noch hat sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich
durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, wenn
schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch irgendeine
dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger
Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das
Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun
auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit
aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode
fertig ist. Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in
die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und
bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation
meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.
Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie
mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird
durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet,
zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer
General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt. In
diesem Sinne begreife ich, von welchem Nutzen Molière seine Magd sein konnte;
denn wenn er derselben, wie er vorgibt, ein Urteil zutraute, das das seinige berichten
konnte, so ist dies eine Bescheidenheit, an deren Dasein in seiner Brust ich
nicht glaube. Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen,
der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein
Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt,
schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben. Ich glaube,
daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch
nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige
Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung
seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes
Glück hin, zu setzen. Mir fällt jener »Donnerkeil« des Mirabeau ein, mit
welchem er den Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten
monarchischen Sitzung des Königs am 23. Juni, in welcher dieser den Ständen
auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände
noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie den Befehl des Königs
vernommen hätten? »Ja«, antwortete Mirabeau, »wir haben des Königs Befehl
vernommen« – ich bin gewiß, daß er bei diesem humanen Anfang, noch nicht an die
Bajonette dachte, mit welchen er schloß: »ja, mein Herr«, wiederholte er, »wir
haben ihn vernommen« – man sieht, daß er noch gar nicht recht weiß, was er
will. »Doch was berechtigt Sie« – fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein
Quell ungeheurer Vorstellungen auf – »uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die
Repräsentanten der Nation.« – Das war es was er brauchte! »Die Nation gibt
Befehle und empfängt keine« – um sich gleich auf den Gipfel der Vermessenheit
zu schwingen. »Und damit ich mich Ihnen ganz deutlich erkläre« – und erst jetzo
findet er, was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet dasteht,
ausdrückt: »so sagen Sie Ihrem Könige, daß wir unsre Plätze anders nicht, als
auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.« – Worauf er sich, selbst
zufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. – Wenn man an den Zeremonienmeister
denkt, so kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem
völligen Geistesbankrott vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem
in einem Körper, der von dem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines
elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte
Elektrizität erweckt wird. Und wie in dem elektrisierten dadurch, nach einer
Wechselwirkung, der ihm inwohnende Elektrizitätsgrad wieder verstärkt wird, so
ging unseres Redners Mut, bei der Vernichtung seines Gegners, zur verwegensten
Begeisterung über. Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer
Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich
den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, daß Mirabeau, sobald der
Zeremonienmeister sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1) sich
sogleich als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu konstituieren.
Denn dadurch, daß er sich, einer Kleistischen Flasche gleich, entladen hatte,
war er nun wieder neutral geworden, und gab, von der Verwegenheit
zurückgekehrt, plötzlich der Furcht vor dem Chatelet, und der Vorsicht, Raum. –
Dies ist eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der
physischen und moralischen Welt, welche sich, wenn man sie verfolgen wollte,
auch noch in den Nebenumständen bewähren würde. Doch ich verlasse mein
Gleichnis, und kehre zur Sache zurück. Auch Lafontaine gibt, in seiner Fabel:
Les animaux malades de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie zu halten
gezwungen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll, ein
merkwürdiges Beispiel von einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus
einem in der Not hingesetzten Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht
im Tierreich, der Löwe versammelt die Großen desselben, und eröffnet ihnen, daß
dem Himmel, wenn er besänftigt werden solle, ein Opfer fallen müsse. Viele
Sünder seien im Volke, der Tod des größesten müsse die übrigen vom Untergang
retten. Sie möchten ihm daher ihre Vergehungen aufrichtig bekennen. Er, für
sein Teil gestehe, daß er, im Drange des Hungers, manchem Schafe den Garaus
gemacht; auch dem Hunde, wenn er ihm zu nahe gekommen; ja, es sei ihm in
leckerhaften Augenblicken zugestoßen, daß er den Schäfer gefressen. Wenn
niemand sich größerer Schwachheiten schuldig gemacht habe, so sei er bereit zu
sterben. »Sire«, sagt der Fuchs, der das Ungewitter von sich ableiten will,
»Sie sind zu großmütig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein
Schaf erwürgen? Oder einen Hund, diese nichtswürdige Bestie?« Und: »quant au
berger«, fährt er fort, denn dies ist der Hauptpunkt: »on peut dire«, obschon
er noch nicht weiß was? »qu'il méritoit tout mal«, auf gut Glück; und somit ist
er verwickelt; »étant«, eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschafft:
»de ces gens là«, und nun erst findet er den Gedanken, der ihn aus der Not
reißt: »qui sur les animaux se font un chimérique empire.« – Und jetzt beweist
er, daß der Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt) das
zweckmäßigste Opfer sei, worauf alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen. –
Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der
Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die
Gemütsakten für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine
Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein
zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse. Etwas ganz
anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig
ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies
Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als
ihn von seiner Erregung abzuspannen. Wenn daher eine Vorstellung verworren
ausgedrückt wird, so folgt der Schluß noch gar nicht, daß sie auch verworren
gedacht worden sei; vielmehr könnte es leicht sein, daß die verworrenst
ausgedrückten grade am deutlichsten gedacht werden. Man sieht oft in einer
Gesellschaft, wo durch ein lebhaftes Gespräch, eine kontinuierliche Befruchtung
der Gemüter mit Ideen im Werk ist, Leute, die sich, weil sie sich der Sprache
nicht mächtig fühlen, sonst in der Regel zurückgezogen halten, plötzlich mit
einer zuckenden Bewegung, aufflammen, die Sprache an sich reißen und etwas
Unverständliches zur Welt bringen. Ja, sie scheinen, wenn sie nun die
Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben, durch ein verlegnes Gebärdenspiel
anzudeuten, daß sie selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen.
Es ist wahrscheinlich, daß diese Leute etwas recht Treffendes, und sehr
deutlich, gedacht haben. Aber der plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang
ihres Geistes vom Denken zum Ausdrücken, schlug die ganze Erregung desselben,
die zur Festhaltung des Gedankens notwendig, wie zum Hervorbringen erforderlich
war, wieder nieder. In solchen Fällen ist es um so unerläßlicher, daß uns die
Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei, um dasjenige, was wir gleichzeitig
gedacht haben, und doch nicht gleichzeitig von uns geben können, wenigstens so
schnell, als möglich, aufeinander folgen zu lassen. Und überhaupt wird jeder,
der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder als sein Gegner spricht, einen
Vorteil über ihn haben, weil er gleichsam mehr Truppen als er ins Feld führt.
Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, auch selbst nur, um
Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen, sieht man oft,
wenn offene, und unterrichtete Köpfe examiniert werden, und man ihnen ohne
vorhergegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese: was ist der Staat? Oder:
was ist das Eigentum? Oder dergleichen. Wenn diese jungen Leute sich in einer Gesellschaft
befunden hätten, wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeitlang
unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit durch
Vergleichung, Absonderung, und Zusammenfassung der Begriffe, die Definition gefunden
haben. Hier aber, wo diese Vorbereitung des Gemüts gänzlich fehlt, sieht man
sie stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen daß
sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand
unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei,
gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier
mit der Antwort bei der Hand sein. Vielleicht gibt es überhaupt keine
schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als
grade ein öffentliches Examen. Abgerechnet, daß es schon widerwärtig und das
Zartgefühl verletzend ist, und daß es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch
ein gelehrter Roßkamm uns nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es
fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen: es ist so
schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen
Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß
selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst der Gedanken,
wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen
der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner, Mißgriffe tun könnte. Was übrigens
solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten
Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemüter der
Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen
sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig
die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von
jemandem, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger,
seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muß hier eine gefährliche Musterung
passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen
gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der, eben von der
Universität kommende, Jüngling gegeben zu haben, den sie examinierten.
(vgl.
Kleist-WuB Bd. 3, S. 453 ff.)