Johann Wolfgang Goethe

 

aus: Briefe, Tagebücher, Gespräche

 

 

                       Schaffhausen, den 17ten Sept. Abends.

    Im Gasthof zur Krone gutes Zimmer. Kupfer, Ge-

schichte der traurigen Epoche Ludwigs XVI.

Betrachtung dabey weiter auszuführen.

    An der Table d'hote Emigranten, Dame, Gräfin,

Condéische Officiere, Pfaffen, Oberst Landolt.

    Bemerkung eines gewissen stieren Blicks der

Schweizer, besonders der Zürcher.

 

                                                           Den 18ten früh.

    Um 6 1/2 Uhr ausgefahren. Grüne Wasserfarbe,

Ursache derselben.

    Nebel, der die Höhen einnahm. Die Tiefe war klar,

man sah das Schloß Laufen halb im Nebel. Der

Dampf des Rheinfalls, den man recht gut unterschei-

den konnte, vermischte sich mit dem Nebel und stieg

mit ihm auf.

    Gedanke an Ossian. Liebe zum Nebel bey heftig

innern Empfindungen.

    Uhwiesen, ein Dorf. Weinberge, unten Feld.

    Oben klärte sich der Himmel langsam auf, die

Nebel lagen noch auf den Höhen.

    Laufen. Man steigt hinab und steht auf Kalkfelsen.

    Theile der sinnlichen Erscheinung des Rheinfalls,

vom hölzernen Vorbau gesehen. Felsen, in der Mitte

stehende, von dem höhern Wasser ausgeschliffne,

gegen die das Wasser herabschießt.

    Ihr Widerstand; einer oben, und der andere unten,

werden völlig überströmt. Schnelle Wellen. Locken

Gischt im Sturz, Gischt unten im Kessel, siedende

Strudel im Kessel.

    Der Vers legitimirt sich:

     Es wallet und siedet und brauset und zischt pp.

    Wenn die strömenden Stellen grün aussehen, so er-

scheint der nächste Gischt leise purpur gefärbt.

    Unten strömen die Wellen schäumend ab, schlagen

hüben und drüben ans Ufer, die Bewegung verklingt

weiter hinab, und das Wasser zeigt im Fortfließen

seine grüne Farbe wieder.

 

 

                              Erregte Ideen.

 

    Gewalt der Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein

Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern,

Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall.

    Beschränkung durch Mühlen drüben, durch einen

Vorbau hüben; ja es war möglich, die schönste An-

sicht dieses herrlichen Natur-Phänomens wirklich zu

verschließen.

    Umgebung. Weinberge, Feld, Wäldchen.

    Bisher war Nebel, zu besonderm Glücke und Be-

merkung des Details; die Sonne trat hervor und be-

leuchtete auf das schönste schief von der Hinterseite

das Ganze. Das Sonnenlicht theilte nun die Massen

ab, bezeichnete alles vor- und zurückstehende, ver-

körperte die ungeheure Bewegung. Das Streben der

Ströme gegen einander schien gewaltsam zu werden,

weil man ihre Richtung und Abtheilungen deutlicher

sah. Stark spritzende Massen aus der Tiefe zeichneten

sich beleuchtet nun vor dem feinern Dunst aus, ein

halber Regenbogen erschien im Dunste.

    Bey längerer Betrachtung scheint die Bewegung

zuzunehmen. Das dauernde Ungeheuer muß uns

immer wachsend erscheinen; das vollkommne muß

uns erst stimmen und uns nach und nach zu sich hin-

aufheben. So erscheinen uns schöne Personen immer

schöner, verständige verständiger.

    Das Meer gebietet dem Meer. Wenn man sich die

Quellen des Oceans dichten wollte, so müßte man sie

so darstellen.

    Nach einiger Beruhigung verfolgt man den Strom

in Gedanken bis zu seinem Ursprung und begleitet

ihn wieder hinab.

    Beym Hinabsteigen nach dem flächern Ufer Gedan-

ken an die neumodische Parksucht.

    Der Natur nachzuhelfen, wenn man schöne Motive

hat, ist in jeder Gegend lobenswürdig; aber wie be-

denklich es sey, gewisse Imaginationen realisiren zu

wollen, da die größten Phänomene der Natur selbst

hinter der Idee zurückbleiben.

    Ich fuhr über. Der Rheinfall von vorn, wo er faß-

lich ist, bleibt noch herrlich, man kann ihn auch schon

schön nennen. Man sieht schon mehr den stufenwei-

sen Fall und die Mannigfaltigkeit in seiner

Breite; man kann die verschiednen Wirkungen ver-

gleichen, vom unbändigsten rechts bis zum nützlich

verwendeten links.

    Über dem Sturz die schöne Felsenwand, an der

man das Hergleiten des Stromes ahnden kann; rechts

das Schloß Laufen. Ich stand so, daß das Schlößchen

Wörth und der Damm, der von ausgeht, den linken

Vordergrund machten. Auch auf dieser Seite sind

Kalkfelsen, und wahrscheinlich sind auch die Felsen

in der Mitte des Sturzes Kalk.

 

 

[Goethe: 1797. Goethe: Briefe, Tagebücher, Gespräche, S. 24010

(vgl. Goethe-WA, III.Abt., Bd. 2, S. 143 ff.)

http://www.digitale-bibliothek.de/band10.htm ]