Georg Forster: Ansichten vom
Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und
Frankreich
Düsseldorf
Das
finstre, traurige Kölln haben wir recht gern verlassen. Wie wenig stimmt das
Innere dieser weitläuftigen, aber halb entvölkerten Stadt mit dem
vielversprechenden Anblick von der Flußseite überein! Unter allen Städten am
Rhein liegt keine so üppig hingegossen, so mit unzähligen Thürmen prangend da.
Man nennt sowohl dieser Thürme, als überhaupt der Gotteshäuser und Altäre, eine
so ungeheure Zahl, daß sie meinen Glauben übersteigt. Gleichwohl ist neben so
vielen kein Plätzchen übrig, wo die Christen, die den Pabst nicht anerkennen,
ihre Andacht frei verrichten dürften. Der Magistrat, der den Protestanten
bereits die freie Religionsübung innerhalb der Ringmauern bewilligt hatte, mußte
seine Erlaubniß kürzlich wieder zurücknehmen, weil der Aberglaube des Pöbels mit
Aufruhr, Mord und Brand drohte. Dieser Pöbel, der beinahe die Hälfte der
Einwohner, also einen Haufen von zwanzigtausend Menschen ausmacht, hat eine
Energie, die nur einer bessern Lenkung bedürfte, um Kölln wieder in einiges
Ansehen zu bringen. Traurig ist es freilich, wenn man auf einer Strecke von
beinahe dreißig deutschen Meilen so manche zum Handel ungleich vortheilhafter
als Frankfurt gelegene Stadt erblickt, und es sich nun nicht länger verbergen
kann, daß mehr oder weniger eben dieselben Ursachen überall dem allgemeinen
Wohlstande kräftigst entgegen gewirkt haben, der sich nur in Frankfurt
entwickeln konnte.
In Kölln sollen viele reiche
Familien wohnen; allein das befriedigt mich nicht, so lange ich auf allen
Straßen nur Schaaren von zerlumpten Bettlern herumschleichen sehe. So oft ich
hingegen nach Frankfurt komme, weide ich mich mit herzlichem Genuß am Anblick
des gemeinen Mannes, der fast durchgehends geschäftig, reinlich, und anständig
gekleidet ist. Der Fleißige, der seine Kräfte rechtschaffen anstrengt, um
hernach seines Erwerbes froh zu werden, ihn mit den Seinigen zu theilen,
regelmäßig mit ihnen einfache, gute Kost zu genießen, und mit ganzem Rock zu
erscheinen – dieser Arbeitsame ist unstreitig sittlicher, gesunder und
glücklicher, als der Müßiggänger; er ist ein Mensch, wo dieser nur ein Thier,
und zwar mit menschlichen Anlagen ein desto gefährlicheres Thier ist.
Bekanntlich geht die Unsittlichkeit der Bettler in Kölln so weit, daß sie den
Müßiggang systematisch treiben und ihre Plätze an den Kirchthüren erblich
hinterlassen oder zum Heirathsgut ihrer Töchter schlagen. In der Osterwoche ist
es gebräuchlich, daß die Armen, die sich schämen öffentlich zu betteln, in
schwarze Kittel vermummt und mit einem Flor über dem Gesicht, auf die Straße
gehen, niederknieen, den Rosenkranz beten und die Vorübergehenden um Almosen
anrufen. Man nennt diese Leute hier mit einem eigenen Namen Kappengecken,
und ihr widerlicher Aufzug ist so auffallend, daß die halbnackten Straßenkinder
ihre zerrissenen Hemdchen sich über den Kopf schlagen, um ihnen diese Mummerei
nachzumachen.
Wer begreift nicht, daß die
zahlreiche Bande von sitten- und gewissenlosen Bettlern, die auf Kosten der
arbeitenden Klasse leben, hier den Ton angeben muß? Allein da sie träge,
unwissend und abergläubisch ist, wird sie ein Werkzeug in der Hand ihrer theils
kurzsichtigen, sinnlichen, theils ränkevollen herrschbegierigen Führer. Die
Geistlichen aller Orden, die hier auf allen Wegen wimmeln, und deren ungeheure
Menge auf einen Reisenden immer einen unangenehmen Eindruck macht, könnten zur
Moralität dieser rohen, ungezügelten Menge auf das heilsamste wirken, könnten
sie zum Fleiß, zur Ordnung anführen, und ihnen billige Gesinnungen gegen ihre
anders denkenden Mitbürger, ein Gefühl von Ehre und Schande, von Eigenthum und
Recht einimpfen. Dies und noch weit mehr könnten, sollten sie thun, da sich ihr
Stand nur durch diese Verwendung für das gemeine Beste zur Existenz legitimiren
kann. Allein sie thun es nicht und – sind! Die Bettlerrotten sind ihre
Miliz, die sie am Seil des schwärzesten Aberglaubens führen, durch kärglich
gespendete Lebensmittel in Sold erhalten, und gegen den Magistrat aufwiegeln,
sobald er ihren Absichten zuwider handelt. Es ist wohl niemand so unwissend, daß
er noch fragen könnte, wer den Pöbel gereizt habe, sich der Erbauung eines
protestantischen Gotteshauses zu widersetzen?
So eben sind auch von der
Köllnischen Klerisei an ihren Kuhrfürsten Vorstellungen ergangen, worin er im
Namen der ächten, rechten Lehre aufgefordert wird, dem Professor der Philosophie
in Bonn den Gebrauch des Federschen Handbuchs bei seinen Vorlesungen zu
untersagen. Unter andern Argumenten, heißt es in ihrer Schrift, daß Feder von
den Protestanten selbst für heterodox[1]
gehalten werde; eine Behauptung, die im protestantischen Deutschland unerhört
ist, da es schon im Wesen des Protestantismus liegt, daß darin die
verabscheuungswürdigen Unterschiede von Orthodoxie und Heterodoxie gar nicht
statt finden können. Wie es scheint, erlaubt man sich also in Kölln den
Grundsatz, daß gegen den Feind alle Vortheile gelten; und in einer Sache, wo es
keinen haltbaren Grund giebt, in der Sache geistlicher Verfolgungssucht, ist
freilich das schlechteste Argument so viel werth, wie jedes andere, sobald man
es nur geltend machen kann. Der Gewissenhafte, der sich bemüht, der strengen
Wahrheit und der Vernunft treu zu bleiben, kommt gegen einen Widersacher nicht
auf, welcher wissentlich zu täuschen und zu übertäuben sucht, und zu seinem
Zwecke alle Mittel für erlaubt hält.
Die Zeiten, sagt man, sind
vorbei, da der Scholastiker fragen durfte, was Aristoteles von diesem oder jenem
Geheimnisse der katholischen Lehre, zum Beispiel, von der Jungfrauschaft der
Mutter Gottes, gehalten habe? Ich hingegen behaupte, daß diese Zeiten nie ganz
aufhören können, so lange es kein Mittel giebt, den Menschen Ehrfurcht gegen das
Edelste, was ihrer Natur zum Grunde liegt, gegen ihre eigene Vernunft,
einzuflößen. Wo diese Ehrfurcht fehlt, da wird man sich immerfort
Ungereimtheiten erlauben, da wird man, sobald politische Verhältnisse es
gestatten, intolerant seyn und die Gewissen mit Zwang beherrschen wollen. Wenn
nicht diese verkehrte Herrschbegierde die Triebfeder der widersprechendsten
Äußerungen wäre, so müßte man sich ja wundern, wie es nur möglich ist, daß
irgend einer Geistlichkeit nicht alle philosophische Lehrbücher höchst
gleichgültig seyn sollten.
Die Philosophie muß sich
schlechterdings nur auf das Begreifliche, auf das Erweisliche einschränken; da
hingegen die Theologie unbegreifliche Mysterien lehrt, welche nicht demonstrirt,
sondern geglaubt werden müssen, vermittelst eines Glaubens, der die unbedingte
Gabe der Gottheit ist. Soll man nun doch das Unbegreifliche demonstriren, das
heißt, begreiflich machen? Einen platteren Widerspruch giebt es
nicht.
Wie mag es aber wohl kommen,
daß man heutiges Tages zu solchen Widersprüchen seine Zuflucht nimmt? So viel
ich sehe, liegt eben darin ein auffallender Beweis der Schwäche, deren sich die
Herren bewußt seyn müssen. Wenn man versinken will, hascht man begierig auch
nach dem Strohhalm, der doch niemanden retten kann. Ehedem verfuhren sowohl die
weltlichen als die kirchlichen Despoten ganz anders. Sie ließen es ihre
geringste Sorge seyn, die Vernunft mit ihren Aussprüchen in Harmonie zu bringen,
brauchten Gewalt, wo sie ihnen in die Hände fiel, und erstickten dann die Keime
des Denkens. Aber hier und dort ist ihnen ein Samenkörnchen entgangen und zu
einem schönen Baume aufgesproßt, unter dessen Schatten sich die Völker schon
sammeln. Mit Schrecken und Abscheu bebt man bereits vor Jedem zurück, der unsere
freie Willkühr, es sei worin es wolle, beschränken möchte, und am allermeisten
vor Dem, der ein Interesse hat, etwas Unbegreifliches als positive Wahrheit
anerkannt zu wissen. Ein Mensch kann dem andern nicht gebieten, was er
thun soll, als in sofern dieser es für gut findet, sich befehlen zu
lassen; wie viel widerrechtlicher also, wenn jemand gebieten will, was man
glauben soll, und denen, die das Gebotene nicht glauben können oder nicht
glauben wollen, die Rechte schmälert, die ein Mensch dem andern nicht nehmen
darf, die ein Bürger dem andern garantirt! In dieser Lage der Sachen ist es so
befremdend nicht, daß man itzt einen letzten Versuch macht, ob man nicht noch
die angehenden Denker selbst durch ein Gewebe von betrüglichen Schlüssen
hintergehen und einfangen könne. Allein die Vernunft rächt sich an denen, die
sie so lange verachteten und verfolgten; und wenn jemand mit der
Demonstrationsmethode, die im vorigen Jahrhundert noch gut genug war, jetzt
auftritt, so nimmt er sich ungefähr so aus, wie ein Kind, das einen Erwachsenen
mit eben dem Popanz schrecken will, vor welchem seine Spielkameraden
liefen.
Das sicherste Zeichen eines
zerrütteten, schlecht eingerichteten, kranken Staats hat man immer daran, wenn
er eine große Menge Müßiggänger nährt. Der Fleißige, der die Früchte seines
Schweißes mit diesen Raubbienen theilen muß, kann sich endlich des Gedankens
nicht erwehren, daß man die unbilligste Forderung an ihn thut, indem man seiner
Redlichkeit die Strafe auferlegt, die eigentlich strafwürdigen Faullenzer zu
füttern. Die natürliche, unvermeidliche Folge dieser Reflexion ist, wenn man
sich zu schwach fühlt dem Übel abzuhelfen, eine tödtliche Gleichgültigkeit gegen
das gemeine Beste, gegen die Verfassung selbst. Welcher Staat kann public
spirit von seinen Bürgern erwarten, wenn er sie mißhandelt? Es ist
gleichviel, ob ein Despot oder eine Horde von Bettlern die Freiheit des
arbeitsamen, tugendhaften Bürgers vernichtet; diese Ungerechtigkeit muß der
Staat allemal büßen. Aus gleichgültigen, kalten Mitgliedern des Ganzen werden
die Hintangesezten und Gedrückten bald auch zu moralisch schlechteren Menschen.
Das Beispiel steckt an, und gegen die Übermacht gewissenloser Müßiggänger
scheinen Betrug und List und Ränke ihnen bald die erlaubteste und sicherste
Gegenwehr. Was die Bettler auf der einen Seite rauben, das müssen Betrogene auf
der anderen Seite wieder ersetzen. Auf diese Art schleicht unvermerkt das Gift
der Sittenlosigkeit durch alle Stände, und verderbt endlich die ganze Masse. Die
Vernunft wird entbehrlich, wo die Begriffe von Recht und Billigkeit dem
Eigennutze weichen müssen; Alles versinkt in jene sinnliche Abspannung, die das
Laster unvermeidlich macht und bei den nachfolgenden Krämpfen des Gewissens dem
lauernden Aberglauben gewonnenes Spiel giebt.
Nirgends erscheint der
Aberglaube in einer schauderhafteren Gestalt als in Kölln. Jemand, der aus
unserm aufgeklärten Mainz dahin kommt, hat in der That einen peinigenden Anblick
an der mechanischen Andacht, womit so viele tausend Menschen den Müßiggang zu
heiligen glauben, und an der blinden Abgötterei, die der Pöbel hier wirklich mit
Reliquien treibt, welche den ächten Religionsverehrern unter den Katholiken
selbst ein Ärgerniß geben. Wenn die Legende von den elftausend Jungfrauen auch
so wahr wäre, wie sie schwer zu glauben ist, so bliebe doch der Anblick ihrer
Knochen in der Ursulakirche darum nicht minder scheußlich und empörend. Allein,
daß man die Stirne hat, dieses zusammengeraffte Gemisch von Menschen- und
Pferdeknochen, welches vermuthlich einmal ein Schlachtfeld deckte, für ein
Heiligthum auszugeben, und daß die Köllner sich auf diese Heiligkeit
todtschlagen lassen, oder, was noch schlimmer ist, den kühnen Zweifler selbst
leicht ohne Umstände todtschlagen könnten: das zeugt von der dicken Finsterniß,
welche hier in Religionssachen herrscht. Es wäre wohl einer gründlichen
Nachforschung werth, ob es sich bestimmen lasse, welche Ursachen in
verschiedenen Ländern dieselbe Religion so umbilden, daß sie in ihren Wirkungen
auf den Charakter der Einwohner sich nicht mehr gleich bleibt. Warum herrscht
zum Beispiel in Kölln ein schwarzgallichter Fanaticismus in der Andacht, in Rom
hingegen Leichtsinn und heitere Freude? Sind es die niederländischen Nebel und
die lauen, gestirnten Nächte Italiens, welche diesen Unterschied bemerkbar
machen? oder steckt es schon von undenklichen Zeiten her im italienischen und im
deutschen Blute, daß jenes den Zauber der erhöheten Sinnlichkeit über alle
Gegenstände verbreitet, dieses aber selbst eine Religion, welche so lebhaft auf
die Sinne wirkt, finster und menschenfeindlich machen kann? Ich gestehe, daß ich
viel auf die Einwirkung eines milden Himmelstriches halte; und so auffallend der
Unterschied zwischen dem niedrigen Bettler in Kölln und dem edleren Lazarone in
Neapel ist, rechne ich ihn doch größtentheils auf die klimatische
Verschiedenheit ihres Aufenthalts. In Italien entwickelt schon allein das Klima
den gesunden Menschenverstand; wer dort faullenzt, der ist, nach Mrs. Piozzi's
Bemerkung, nur nicht hungrig. Sobald ihn hungert, greift er zur Arbeit, weil
sein Verstand ihn dieses Mittel als untrüglich einsehen läßt. Hingegen versuch'
es jemand, dem Pöbel in Kölln von Arbeit zu sprechen!
Wir besahen in der St.
Peterskirche zu Kölln die berühmte Kreuzigung Petri von Rubens. Wenn ich
nichts Anderes von diesem Meister gesehen hätte, so würde mich dieses Stück
nicht in Versuchung führen, allzuvortheilhaft von ihm zu
urtheilen.
Die ganze Figur des Apostels
ist sehr verzeichnet, und eine richtige Zeichnung konnte doch bei einem so
ekelhaften, das Gefühl so sehr beleidigenden Gegenstande, noch das einzige
Verdienst bleiben. Der Heilige wird hier ans Kreuz genagelt, und – nun denke Dir
die Abscheulichkeit! – damit seine Henker bequemer zu den Füßen kommen können,
steht das Kreuz mit dem Kopf zu unterst; die Leiden des Gemarterten sind
folglich um so viel fürchterlicher. Hilf Himmel, welch ein ästhetisches Gefühl
hat so mancher gepriesene Künstler gehabt! Sind das Gegenstände, die eine
Abbildung verdienen? Gegenstände, die ich in der Natur nicht sehen möchte! Doch
wir sind jetzt in der Nähe der schönen Galerie; morgen will ich Dich von der
Kunst unterhalten.
Welch ein himmelweiter
Unterschied zwischen Kölln und diesem netten, reinlichen, wohlhabenden
Düsseldorf! Eine wohlgebaute Stadt, schöne massive Häuser, gerade und helle
Straßen, thätige, wohlgekleidete Einwohner; wie erheitert das nicht dem
Reisenden das Herz! Vor zwei Jahren ließ der Kuhrfürst einen Theil der
Festungswerke demoliren, und erlaubte seinen Unterthanen auf dem Platze zu
bauen. Jetzt steht schon eine ganze neue Stadt von mehreren langen, nach der
Schnur gezogenen Straßen da; man wetteifert mit einander, wer sein Haus am
schönsten, am bequemsten bauen soll; die angelegten Kapitalien belaufen sich auf
sehr beträchtliche Summen, und in wenigen Jahren wird Düsseldorf noch einmal so
groß als es war, und um vieles prächtiger seyn. Wer doch das Geheimniß einer
guten Staatsverwaltung wüßte, damit er sagen könnte, wie sich in den
Herzogthümern Jülich und Berg so große Reichthümer häuften, wie die Bevölkerung
daselbst so stark, und der Wohlstand der Einwohner gleichwohl so allgemein ward,
daß die kleinern Städtchen nicht minder wohlhabend sind, als die Hauptstadt; daß
der Anbau auf dem platten Lande denselben Geist der guten Wirthschaft, denselben
Fleiß zeigt, wie die Fabriken; daß man hier so leicht den Weg zu einer
glücklichen Existenz finden lernte, der anderwärts so schwer zu treffen scheint?
– Ich fange an zu glauben, dieses Geheimniß sei einfacher als man denkt; es ist
das Ei des Kolumbus, und wenn man es weiß, kann man sich kaum bereden,
daß nicht mehr dahinter war, ja, man ärgert sich wohl, daß man nicht von selbst
darauf fiel. Die ganze Kunst besteht darin, daß der Regent sich der
verderblichen Spiegelfechterei, die man gewöhnlich, obwohl mit Unrecht,
regieren nennt, zu rechter Zeit zu enthalten wisse, und sein Volk mit den
gepriesenen Regentenkünsten verschone, worauf sich mancher so viel zu gute thut,
und womit er sich das Ansehen der einzigen Seele in der großen Staatsmaschine
giebt. Es gehört ein entschiedenes Maaß von gutem Willen und ein etwas seltener,
selbst bei guten Menschen, wenn sie Macht in Händen haben, ungewöhnlicher Grad
der Selbstverläugnung dazu, um nicht zur Unzeit wirken zu wollen, und sich
lediglich darauf einzuschränken, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche
der freien, willkührlichen, unbedingten Thätigkeit eines jeden Bürgers im Staate
entgegen stehen. Die Einsicht des Regenten sei noch so vortreflich; sobald er es
nach derselben versucht, die Menschen auf einem Wege, den sie selbst sich nicht
wählten, vor sich hin zu treiben: sobald erfährt er auch, daß die eigenen
Lebenskräfte in seiner Staatsmaschine stocken oder schlafen, und die Wirkung
schlechterdings nicht hervorbringen, die erfolgt seyn würde, wenn er nicht den
verwandten Geist in jedem seiner Brüder verkannt und zu einer ungeziemenden
Knechtschaft verurtheilt hätte. Es ist wahr, die Summe des Guten, das in der
Welt geschieht, ist immer unter unserer Erwartung, aber sicherlich ist sie da
die kleinste, wo man sich vorsetzt, eine größere zu erzwingen. Durch das
Übermaaß alles Positiven, versündigen sich die Regierungsformen an dem
Menschengeschlechte. Durch die ins Unendliche vervielfältigten Gesetze und
landesherrlichen Verordnungen, so gut es oft damit gemeint seyn mag, und durch
jene, von Schmeichlern und Parasiten so gepriesene Kleingeisterei der Fürsten,
die mit unermüdeter Sorgfalt in eines jeden Bürgers Topf gucken, oder gar sich
um seine Privatmeinungen und Gedanken bekümmern, richten die Regenten allmälig,
ohne es selbst zu wollen, ihre Staaten zu Grunde, indem sie die freie
Betriebsamkeit des Bürgers hemmen, mit welcher zugleich die Entwickelung aller
Geistesfähigkeiten aufhört.
Eine Viertelstunde von hier
besuchten wir ein Mönchskloster. Es giebt nur wenig ähnliche Klöster in der
Welt; denn die Mönche folgen der strengen Regel der in Frankreich so berühmten
Abtei la Trappe. Zu unserer Verwunderung fing der erste, den wir erblickten,
sogleich an mit uns zu sprechen, und erzählte uns, das Gelübde des
Stillschweigens sei gänzlich aufgehoben. Dem guten Manne schien aber das
Sprechen, dessen er so lange entwohnt gewesen war, nicht leicht zu werden.
Ehedem hielt man mit einer unglaublichen Strenge auf dieses Verbot. Ein
Officier, der einst einen dieser Mönche nach dem Wege fragte, und keine Antwort
auf wiederholtes Anfragen erhielt, hätte den armen Büßer beinahe mit Schlägen
ums Leben gebracht, ohne einen Laut aus ihm hervorzubringen. In Frankreich
brannte das ganze Kloster ab, und keiner von den Brüdern brach das heilige
Stillschweigen. Die Aufhebung desselben ist nur ein Vorläufer der gänzlichen
Aufhebung des Ordens selbst. Schon lange konnte er keine Novizen mehr bekommen;
man scheute die allzustrenge Regel. Mit dem Aussterben dieser Mönche wird indeß
dem Staate kein großer Gewinn zufallen, da sie so eben ihre Kapitalien zur
Erbauung einer neuen Kirche und eines neuen Klostergebäudes verwendet haben.
Ungeachtet sie kein Fleisch essen, werden sie doch bei ihrer stillen, unthätigen
Lebensweise, welche die Kräfte des Geistes fast gänzlich schlummern läßt, recht
alt, und sind fast durchgehends wohlbeleibt. Unser Führer war über achtzig Jahr
alt, und sah wenigstens zwanzig Jahr jünger aus. Auf seinem übrigens sehr
gutmüthigen Gesichte, war die Leere des Gedächtnisses, die Armuth des
Ideenvorraths, unverkennbar. Was ist nun besser: einige Runzeln mehr und einen
durch Übung gebildeten, durch Erfahrung und Thätigkeit bereicherten Geist zu
Grabe zu nehmen, oder sorglos, ohne Leidenschaften, ohne Geistesgenuß, in
stiller Andacht hinzubrüten und zuletzt ganz sanft in seinem Fette zu ersticken?
Wähle sich ein jeder, was ihm frommt; ich weiß, daß diese Existenz und dieses
Ende keinen Reiz für den haben, der schon das bessere Loos der Menschen
kannte:
zu leiden, zu weinen,
zu genießen und zu freuen sich.
[Forster:
Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und
Frankreich. Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, S.
36609
(vgl.
Forster-W Bd. 2, S. 411 ff.)
http://www.digitale-bibliothek.de/band1.htm
]
[1]
he|te|ro|dox <gr.-mlat.>:
1.
andersgläubig,
von der herrschenden [Kirchen]lehre abweichend.
Duden -
Das Fremdwörterbuch, 9. Aufl. Mannheim 2007 [CD-ROM]