Volker Klotz: Geschlossene und offene Form des Dramas

 

Geschlossene Form des Dramas

Offene Form des Dramas (hier am Beispiel F. Wedkinds „Frühlings Erwachen“)

I. HANDLUNG

1) allgemein:
Eigentümlichkeiten der Handlung sind Einheit <durch Aussparung und Funktionalisierung> und Ganzheit <durch liaisons de scene> und Unersetzbarkeit der Teile <durch gesteuerte Finalität>.
„...die positive Seite der Ganzheit liegt darin, daß alles da ist, was irgend mit dazu gehört (Vollständigkeit), die nega­tive Seite der Einheit darin, daß alles nicht Unentbehrliche weggelassen wird (Unersetzlichkeit der Teile), und um den Zu­sammenhang... vollends deutlich machen,... noch die weitere Bestimmung, daß alles nur an seiner Stelle gedacht werden kann (Unversetzbarkeit der Teile).“[Max Kommerell]

 

2) Einheit - Ganzheit
Das geschlossene Drama hat stets eine eindeutige Haupthandlung, die kontinuierlich durchgeführt wird. ...Die Nebenhandlung, die niemals Autonomie gewinnt, dient der Haupthandlung. Indem sie sie bewegt, erklärt, neue Aspekte auf die zentralen Ereignisse vermittelt, erweist sie sich als notwendiger Teil der Haupthandlung.
...Die Handlung des geschlossenen Dramas bietet den Höhepunkt einer schon lange angelaufenen, vor dem Beginn des Dramas einsetzenden Entwicklung dar. Auf eine fest umgrenzte, einheitliche Raum-, Zeit- und Ereignisspanne sich beschränkend, ist sie deutlicher Ausschnitt aus einem Größeren.

 

3) Kontinuität
Die Handlung ist geschlossen und schlüssig, sie ist linear und kontinuierlich. Nichts ereignet sich, was nicht aus dem Vor-ausgegangenen logisch sich ableiten ließe... Was nicht vorgeführt wird, wird berichtend eingeholt.

 

4) Exposition
Die Handlung ist einerseits durch die Beschränkung auf eine knappe Raum-, Zeit und Geschehnisspanne Endphase einer lange sich anbahnenden Entwicklung, andererseits, dem Gebot nach Ganzheit und Geschlossenheit folgend, muß sie eben diesen Teilcharakter verleugnen. Diesen Zwiespalt zu versöhnen, bedarf es einer wohlgefügten Exposition, welche die Vorgeschichte, die räumlich und zeitlich außerhalb der vorgeführten Handlung befindlichen Gründe und Bedingungen der dramatischen Aktion aufzunehmen hat. Die Exposition hat ferner die Aufgabe, die Situation der Personen so zu umreißen, daß der Zuschauer in konzentrierter Form mit ihr vertraut wird. Schließlich gibt sie Ausgangspunkte für den Fortlauf des Stückes.

 

5) Duell
Äußerer Kampf der Gegner, innerer Kampf des Gewissens und der Leidenschaften in klarer, übersichtlicher Gegnerschaft - das ist die eigentliche Begebenheit des geschlossenen Dramas; Kampf, Duell mit einem erkannten, profilierten Gegner, nach festen Spielregeln, die Grundfigur des dramatischen Geschehens.

 

6) Verdeckte Handlung
Auf dreierlei Weisen können die Zuschauer von verdeckten Handlungen erfahren.
Erstens: nach einer ausgesparten Zeitspanne, die in eine Aktpause fällt, kann unauffällig und zwanglos aus der neu einsetzenden Handlungsphase ersichtlich werden, daß in jener ausgesparten Zeitspanne oder gleichzeitig mit dem vorausgegangenen Akt außerhalb des sichtbaren Aktionsortes sich Dinge ereignet haben, deren Konsequenzen der jetzt eben gespielte Akt bringt....
Zweitens: Teichoskopie, berichtende 'Mauerschau'. Hier herrscht enge Nähe zwischen den beiden Handlungspartien, der verdeckten und der offenen. Sowohl zeitlich: es besteht Simultaneität, der schauend Meldende faßt Ereignisse, die er gerade sieht, unverzüglich in Worte. Als auch örtlich: die für den Zuschauer unsichtbaren reportierten Ereignisse spielen sich im Gesichtskreis eines Menschen ab, den er sehen kann.
...Häufig und charakteristisch dagegen ist für das geschlossene Drama die Möglichkeit, verdeckte Handlung in offene Handlung aufzunehmen: der Botenbericht. Hierbei wird nur episch vermittelt.

 

7) Verzicht auf Charakteristisches
Das geschlossene Drama meidet Massenszenen. Sie brächten brodelnde Bewegung auf die Bühne, sie brächten Unartikuliertes, Ungeformtes, worunter, wie auch unter krassen Gewalttaten, die feine Skala zarter Regungen und nuancierter Ausdrucksweisen litte. Auf Massenszenen wird sogar verzichtet, wo sie einer verdeutlichenden Charakterisierung zugute kämen.

 

8) Mittelbarer Stil
Derb-Stoffliches, Szenisch-Lebendiges wird verdrängt in die Mittelbarkeit. Über Gewalttaten erfahren wir nur durch filternden Botenbericht, die barbarische Masse begegnet uns nur essentiell in den Worten eines Einzelnen.

 

I. HANDLUNG

1. Polymythie

2. komplementäre Stränge
a) Kollektivstrang : die >Sache< in Wort + Bild
è Zustand
b) Privatstrang    : Sachverhalt pars pro toto
è  Vorgang
beide Stränge stehen in einem komplementären Verhältnis;
sie sind ein Mittel,
die Streuung des Geschehens zu steuern
der zerborstenen Handlg. Fluchtlinien zu setzten
innere Kommunikation zu stiften unter
äußerlich versprengten und vereinzelten Teilen.
[zu a) gegeneinander kämpfende Generationen
zu b) aus a) lösen sich die Privatstränge, die Hauptpersonen treten zuerst in der Gruppe auf, wie Wendla in I,3]

3. metaphorische Verklammerung
erklärt Beziehung zwischen Zustand und Vorgang von der bildl. Sprache her [bei 2) vom Thema her, beim folgenden Pkt.3) von der dramatischen Person her]; [Königskerzen und Weidenbaum (II,7+III,2); Märchen von der kopflosen Königin (II,1+II,7+Schluß)]

4. das zentrale Ich
tendiert zur charakterisierenden Totalität
è  der Mensch in seiner biolog., sozialen, religiösen, moralischen Befangenheit

5. verborgene Zusammenhänge

6. Integrationspunkt
der tragische Konflikt ereignet sich kommentarlos; I. ist der Fluchtpunkt, in dem vielerlei Perspektiven des Dramas sich ko­ordinieren; [Friedhofszene mit vermummtem Herrn]

 

II. ZEIT

1. weite Zeiterstreckung

2. Zeit als Wirkungsmacht

3. Zeitqualität:
das Ganze in Ausschnitten als Kontinuum

4. reine Gegenwart
nicht mehr entwicklungsfähige Augenblicke; der Augenblick regiert.

 

III. RAUM

1. Ortsfülle

2. Enge
zum Beispiel Zimmerszenen: die Einsamkeit der Zimmer; Wand er­hält mehr als requisitenhaftes Gewicht;

3. Weite
die weite, unbegrenzte Natur
[I,3 Thea, Wendla, Martha (Wasser, Wind)]

4. spezieller Raum
R. konstituiert die Handlung;
der R. charakterisiert das in ihm, mit ihm und durch ihn sich Vollziehende

5. charakterisierender Raum
R. als Katalysator;
Angelpunkte und zugespitzte Szenen spielen im Freien

6. Raumverbindung
das offene Fenster verbindet Innen und Außen
[II,1 (Moritz: Ich fühle mich so eigentümlich vergeistert..)]

7. Kontakt mit der aktiven Natur
[Schluß (Szenenanweisung: Helle Novembernacht + Melchiors Rede)]

8. Dunkel
[Schlußszene]

9. Dinge

 

IV. PERSONEN

1. kein Standesvorbehalt

2. beschränkte Mündigkeit; unfertige Menschen

3. Physisches
nicht nur intellektueller, sondern auch physischer Kampf [Sexualität]

4. Unbewußtes [Wendlas Masochismus; Märchen]

5. Gefühlsumbruch
so diskontinuierlich wie die Handlung ist das von Stimmungen und Emotionen bestimmte Verhalten der Personen

6. Pantomime

7. atmosphärische Personen [Zöglinge der Korrektionsanstalt]

 

V. KOMPOSITION

1. Von unten nach oben
geht von der Einzelszene, als der dramatischen Urzelle, aus

2. Offenheit
Szene ist herausgebrochenes Stück aus einem komplexen Gescheh­nisganzen (auch die nicht gezeigte, nicht berichtete verdeckte Handlung);
das innere Geschehen ist zwar beendet, aber nicht das äußere
[siehe Melchiors weiterer Lebenslauf, oder Gustchen und Läuffers im <Hofmeister>]

3. Autonomie der Szene
Szenen betonen die ungeglätteten Konturen; sie beginnen und enden oft mitten in einer Handlung; gerade dieser Stückcharakter weist auf das Ganze;
sie haben ihre eigene Personenkonstellation, ihren eigenen Grundgestus, ihren eigenen spezifischen Raum; [Frühl.Erw.I,2; III,1; III,2]

4. Variation
[Frühl.Erw. I,2;I,3]

5. Geringes Gewicht des Akts
einige offene Dramen verzichten ganz auf eine Akteinteilung; sonst hat er oft mehr die Funktion, eine Station des Verlaufs zu kennzeichnen, als die der Zwischenbilanz; er kann aber auch sinnvoll unterteilen
[diskussionsbetonte Zimmerszene zu Beginn gg. geschehnisbetonte Naturszene am Ende]

6. Kontrast
großräumige und kleinräumige, pathetische und desillusionie­rende, Individuen- und Kollektivszenen...

 

VI. SPRACHE

1. Pluralismus
Sprache als Ausdruck der momentanen Situation der Sprechenden (Rollenprosa), bedingt durch unterschiedl. soziale Gruppe;
uneigentlicher Sprachstil wird so überhaupt erst erkennbar;
[Kanzleistil der Lehrer; Juristensprache des Herrn Gabor];[<Hofmeister>:Studenten, Wenzeslaus, Baronin]

2. Satzbau
a) brüchige Syntax
wenn Hypotaxe, dann spürt man deren Willkür
b) Beiordnung, Polyperspektive
die Parataxe überwiegt
typische rhetor. Mittel sind Ellipse und Anakoluth

3. Monolog
deutet oft nur an; unkontrolliert und unzusammenhängend;

4. Dialog
treibt die Handlung kaum vorwärts; vornehmlich Selbstaussagen der Personen und Situationsreflexe; Dialogpartner stehen sich nicht gegenüber, sondern stehen nebeneinander und gehen selten auf die Argumentation des anderen ein, sie sprechen oft wie auf verschiedenen Ebenen
[Dialog Wendla-Melchior I,5]

5. Metaphorik
Herkunft: Bibel, Volkslied, Sprichwort, Märchen, Traum

 

 


Geschlossene und offene Dramenform (Kurzform)

 

Geschlossene Form des Dramas

Offene Form des Dramas

1. Handlung

Einheit der Handlung; Seitenstränge dienen der Haupthandlung.

Geschlossenheit der Handlung: in sich abgeschlossen und vollständig; keine wesentlichen Sprünge und Lücken.

1. Handlung

Vielfalt der Handlung: Mehrsträngigkeit; relativ selbständige Nebenhandlungen.

Offenheit der Handlung: schlaglichtartig, bruchstückhaft und fortsetzbar; sprunghaft mit vielen Aussparungen.

2. Zeit

Einheit der Zeit: geringe Zeiterstreckung. Zeitverlauf wichtiger als Zeiteindruck: szenische Gegenwart überlagert von Vorwärts- und Rückwärtsbezügen.

2. Zeit

Vielfalt der Zeit: weite, z. T. unbestimmte Zeiterstreckung. Intensiv erlebter dramatischer Augenblick wichtiger als Sukzession: sprachlich, gestisch, akustisch und optisch dichte Situation.

3. Raum

Einheit des Ortes: kein dramatisch wirksamer Ortswechsel.

 

Raum typisiert; nur Rahmen, kein Handlungsfaktor.

3. Raum

Vielfalt des Ortes: Fülle verschieden gearteter, eigentümlicher Lebens- und Handlungsräume.

Raum charakteristisch, Mitspieler; bezeichnet Menschentyp, Stand, Milieu, Atmosphäre, Sprache.

4. Personen

Einheit des Standes: Personal sozial einheitlich, mit gemeinsamem geistigen Bezugssystem.

Ständeklausel: Tragödie höfische, Komödie bürgerliche Sphäre. Klare personelle Gegnerschaften.

Mündige, verantwortliche, reflektiert handelnde Persönlichkeiten.

 

Antriebsmomente im Wesentlichen das Geistige und das geläuterte Seelische.

4. Personen

Vielfalt des Standes: Aufeinandertreffen verschiedener sozialer Schichten und Weltbilder.

Keine Standesvorbehalte: jeder Stand tragikwürdig und komikanfällig.

Personen im Kampf mit allgemeinen Welt-, Klassen-, Milieuverhältnissen. Auch unreife, unfreie, unfertige, dumpf getriebene Menschen.

Ebenbürtige Antriebsmomente das Kreatürliche, Körperliche, Triebhafte, das Unbewusste und das Soziale

5. Sprache

Einheit der Sprache: Vers (meist Blankvers), Dichtungssprache, hoher Stil.

 

 

Sprache fast ausschließlich Ausdrucksmedium.

 

 

Satzbau unterordnend; Satzfolge beständig, schlüssig, grammatisch stimmig; Sprache kunstvoll, zielgerichtet, logisch folgernd, dialogisch.

5. Sprache

Vielfalt der Sprache: Sprechweisen verschieden nach Stand, Charakter, Situation; Prosa, auch Alltagssprache, Stilmischung.

Neben der manchmal versagenden oder aussetzenden Sprache: Mimik, Gestik, Gebärde - der Körper spricht mit (Zunahme der Regieanweisungen).

Satzbau nebenordnend; Satzfolge auch sprunghaft, stockend, brüchig, kreisend; Sprache auch unbeholfen, zerfahren, assoziativ, monologisch.

6. Aufbau

Geschlossene, straffe, eng verkettete, geordnete Komposition

 

Aufbau von oben nach unten: Akt wichtiger als Szene. 5 Akte, symmetrisch gefügt, der dritte Akt als Mittelachse.

6. Aufbau

Offene, lockere Komposition; reigen-, stationen-, mosaik- oder kaleidoskopartiger Charakter.

Aufbau von unten nach oben: Szene als dramatische Urzelle. Zusammenhalt durch zentrales Ich, metaphorische Verklammerung, komplementäre Stränge (Einzelner - Kollektiv) oder Integrationspunkt (Schlüsselpassage).

7. Allgemeine Stilzüge

Ausschnitt als Ganzes; Geschlossenheit, Begrenztheit, innere Verweisung.

 

Vorrang der Idee vor dem Stoff; geistige Totalität.

Geschlossenes Weltbild der Hierarchie, Ordnung, Gesetzlichkeit.

7. Allgemeine Stilzüge

Das Ganze in Ausschnitten; Offenheit, Unbegrenztheit, Verweisung über sich hinaus.

Vorrang des Stoffes vor der Idee; empirische Totalität.

Offenes, disparates, brüchiges Weltbild.

 

http://www.aschern.de/material/carlos.pdf

Quelle: nach Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. München: Hanser, 1985