GIOVANNI BOCCACCIO
DIE RINGPARABEL
Ausführlich
ausgestaltet und weit verbreitet wurde die Parabel dann im 14. Jahrhundert
durch GIOVANNI BOCCACCIO (1313-1375). In seinem Novellenzyklus „DECAMERONE“ (1349-1352)
bildet sie die dritte Novelle des ersten Tages.
Lessing selbst schreibt verschiedentlich, dass er diese als Vorlage benutzt
habe. Aus der dritten Novelle des zehnten Tages hat er auch den Namen des Juden
„Nathan„ übernommen. Die seit dem Mittelalter überlieferte „Ringparabel„ hat
er als Kernstück seines Dramas benutzt.
http://gutenberg.aol.de/lessing/nathan/nathan36.htm
DRITTE GESCHICHTE
Der Jude Melchisedech entgeht durch eine Geschichte von drei Ringen einer großen Gefahr, die Saladin ihm bereitet.
Als
Neiphile schwieg und ihre Geschichte von allen gelobt worden war, fing
Philomena, nach dem Wunsche der Königin, also zu reden an:
Die
Erzählung Neiphiles erinnert mich an die gefährliche Lage, in der sich einst
ein Jude befand, und, da von Gott und der Wahrheit unsers Glaubens bereits in
angemessener Weise gesprochen worden ist, es mithin nicht unziemlich erscheinen
kann, wenn wir uns zu den Schicksalen und Handlungen der Menschen herablassen,
so will ich euch jene Geschichte erzählen, die vielleicht Eure Vorsicht
vermehren wird, wenn ihr auf vorgelegte Fragen zu antworten habt. Ihr müsst
nämlich wissen, liebreiche Freundinnen, dass, wie die Thorheit gar manchen aus
seiner glücklichen Lage reißt und ihn in tiefes Elend stürzt, so den Weisen
seine Klugheit aus großer Gefahr errettet und ihm vollkommene Ruhe und Sicherheit
gewährt. Dass in der That der Unverstand oft vom Glücke zum Elend führt, zeigen
viele Beispiele, die wir gegenwärtig nicht zu erzählen gesonnen sind, weil
deren täglich sich unter unsern Augen zutragen. Wie aber die Klugheit helfen
kann, will ich versprochenermaßen in folgender kurzen Geschichte euch zeigen.
Saladin,
dessen Tapferkeit so groß war, dass sie ihn nicht nur von einem geringen Manne
zum Sultan von Babylon erhob, sondern ihm auch vielfache Siege über
sarazenische und christliche Fürsten gewährte, hatte in zahlreichen Kriegen und
in großartigem Aufwand seinen ganzen Schatz geleert, und wusste nun, wo neue
und unerwartete Bedürfnisse wieder eine große Geldsumme erheischten, nicht, wo
er sie so schnell, als er ihrer bedurfte, auftreiben sollte. Da erinnerte er
sich eines reichen Juden namens Melchisedech, der in Alexandrien auf Wucher
lieh und nach Saladins Dafürhalten wol imstande gewesen wäre, ihm zu helfen,
aber so geizig war, dass er von freien Stücken nie gethan haben würde. Gewalt
wollte Saladin nicht brauchen; aber das Bedürfnis war dringend, und es stand
bei ihm fest, auf die eine oder die andere Art sollte der Jude ihm helfen. So
sann er denn nur auf einen Vorwand, unter einigem Schein von Recht ihn zwingen
zu können.
Endlich
ließ er ihn rufen, empfing ihn auf das freundlichste, hieß ihn neben sich
sitzen und sprach alsdann: „Mein Freund, ich habe schon von vielen gehört, du
seiest weise und habest besonders in göttlichen Dingen tiefe Einsicht; nun
erführe ich gern von dir, welches unter den drei Gesetzen du für das wahre
hältst, das jüdische, das sarazenische oder das christliche.“ Der Jude war in
der That ein weiser Mann und erkannte wohl, dass Saladin ihm solcherlei Fragen
nur vorlegte, um ihn in seinen Worten zu fangen; auch sah er, dass, welches von
diesen Gesetzen er vor den andern loben möchte, Saladin immer seinen Zweck
erreichte. So bot er denn schnell seinen ganzen Scharfsinn auf, um eine unverfängliche
Antwort, wie sie ihm noth that, zu finden, und sagte dann, als ihm plötzlich eingefallen
war, wie er sprechen sollte:
„Mein
Gebieter, die Frage, die Ihr mir vorlegt, ist schön und tiefsinnig; soll ich
aber meine Meinung darauf sagen, so muss ich euch eine kleine Geschichte
erzählen, die Ihr sogleich vernehmen sollt. Ich erinnere mich, oftmals gehört
zu haben, dass vor Zeiten ein reicher und vornehmer Mann lebte, der vor allen
andern auserlesenen Juwelen, die er in seinem Schatz verwahrte, einen
wunderschönen und kostbaren Ring werth hielt. Um diesen seinem Werthe und
seiner Schönheit nach zu ehren und ihn auf immer im Besitz seiner Nachkommen zu
erhalten, ordnete er an, dass derjenige unter seinen Söhnen, der den Ring, als
vom Vater ihm übergeben, würde vorzeigen könnten, für seinen Erben gelten und
vor allen andern als der vornehmste geehrt werden sollte. Der erste Empfänger
des Ringes traf unter seinen Kindern eine ähnliche Verfügung und verfuhr dabei
wie sein Vorfahre. Kurz der Ring ging von Hand zu Hand auf viele Nachkommen
über. Endlich aber kam er in den Besitz eines Mannes, der drei Söhne hatte, die
sämmtlich schön, tugendhaft und ihrem Vater unbedingt gehorsam, daher auch
gleich zärtlich von ihm geliebt waren. Die Jünglinge kannten das Herkommen im
Betreff des Ringes, und da ein jeder der Geehrteste unter den Seinigen zu
werden wünschte, baten alle drei einzeln den Vater, der schon alt war, auf das
inständigste um das Geschenk des Ringes. Der gute Mann liebte sie alle
gleichmäßig und wusste selber keine Wahl unter ihnen zu treffen; so versprach
er denn den Ring einem jeden und dachte auf ein Mittel, alle zu befriedigen. Zu
dem Ende ließ er heimlich von einem geschickten Meister zwei andere Ringe verfertigen,
die dem ersten so ähnlich waren, dass er selbst, der doch den Auftrag gegeben,
den rechten kaum zu erkennen wusste. Als er auf dem Todbette lag, gab er
heimlich jedem der Söhne einen von den Ringen. Nach des Vaters Tode nahm ein
jeder Erbschaft und Vorrang für sich in Anspruch, und da einer dem andern das
Recht dazu bestritt, zeigte der eine wie die andern, um die Forderung zu begründen,
den Ring, den er erhalten hatte vor. Da sich nun ergab, dass die Ringe einander
so ähnlich waren, dass niemand, welcher der echte sei, erkennen konnte, blieb
die Frage, welcher von ihnen des Vaters wahres Erbe sei, unentschieden, und
bleibt es noch heute.
So sage
ich euch denn, mein Gebieter, auch von den drei Gesetzen, die Gott der Vater
den drei Völkern gegeben, und über die Ihr mich befraget. Jedes der Völker
glaubt seine Erbschaft, sein wahres Gesetz und seine Gebote zu haben, damit es
sie befolge. Wer es aber wirklich hat, darüber ist, wie über die Ringe, die
Frage noch unentschieden.“
Als
Saladin erkannte, wie geschickt der Jude den Schlingen entgangen sei, die er
ihm in den Weg gelegt hatte, entschloss er sich, ihm geradezu sein Bedürfnis zu
gestehen. Dabei verschwieg er ihm nicht, was er zu thun gedacht habe, wenn jener
ihm nicht mit so viel Geistesgegenwart geantwortet hätte. Der Jude diente
Saladin mit allem, was dieser von ihm verlangte, und Saladin erstattete jenem
nicht nur das Darlehen vollkommen, sondern überhäufte ihn noch mit Geschenken,
gab ihm Ehre und Ansehen unter denen, die ihm am nächsten standen, und
behandelte ihn immerdar als seinen Freund.
BOCCACCI.DOC (Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, Übers. von Karl witte. Bd. 1., Leipzig 1859. S. 49-53)